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Sozialhilfe

■ betr.: „Auf der Achterbahn“, taz vom 22. 10. 94

Brecht hat es gewußt: Die Herrschenden müssen in der Lage sein, das alte Volk abzuwählen und ein neues einzusetzen. Im Osten ging das nicht, im Westen sehr wohl. Durch den ständigen Umtausch von Teilen der Belegschaften erreicht man eine dauerhafte Stabilität. So ein Prozeß muß durch Gesetze, Steuervorteile, Subventionen, Abschreibung usw. begünstigt werden, das heißt, dieses Recycling muß ohne Verluste seitens der Arbeitgeber vorgenommen werden. [...]

Ironischerweise wird ein Umtausch dringend notwendig, wo die Produktion am höchsten ist. Das hat nichts mit Überproduktion, Konjunktur oder Wettbewerb zu tun, sondern ist rein politisch bedingt im Sinne von internen Hierarchien, die durch rational aufgebaute Produktionsgemeinschaften bedroht werden. Die Firma muß in der Lage sein, sich in die roten Zahlen zu wirtschaften, um Massenentlassungen zu rechtfertigen ohne Verluste für das Management oder Eigentümer. Das ist bei uns möglich. Aber auch eine Gewerkschaft muß dies können, das heißt sich in die roten Zahlen wirtschaften, um Teile ihrer Funktionäre loszuwerden und neue anzuwerben. Sie muß auch in der Lage sein, Mitglieder loszuwerden, und das klappt nur durch ein Sich-Unterordnen der Politik der Firma, die sie nur scheinbar bekämpft; das heißt, die Arbeiter, die entlassen werden, sind auch der Gewerkschaftshierarchie eine Bedrohung. Die Stärke einer Gewerkschaft liegt weder in ihrem Bankkonto noch in ihrer Mitgliederzahl, sondern auschließlich in ihrer Unterstützung dieser Politik des Recyclings, deren Vorteile sie auch genießt. Nach einem Gesundschrumpfen kann sie wieder durch ihre von der Industrie bewilligte Monopolstellung in einem bestimmten Sektor expandieren. Jim Tenerowicz, Berlin

[...] Es mag zwar für viele Akademiker und damit auch für einen großen Teil der taz-Leserschaft wirklich bitter sein, daß Universitätsabschlüsse heute nicht mehr bruchlos in gutbezahlte Dauerstellungen münden, mit den Perspektiven des größten Teils armer Menschen hat das allerdings wenig zu tun.

Zirka 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung in den alten Ländern sind zu den Langzeitarmen zu rechnen (fielen im untersuchten Sechsjahreszeitraum mindestens in drei Jahren unter die Armutsgrenze), auch dieses ist ein Ergebnis der „dynamischen Armutsforschung“. Und im Bereich der Sozialhilfe werden viele Antragsteller dadurch zu „Kurzzeitbeziehern“, weil sie die Bearbeitungszeit für den Antrag auf eine geringe Arbeitslosenhilfe oder eine kümmerliche Rente überbrücken. Das Problem der Langzeitarmut wird nicht dadurch verringert, daß nun auch Mittelschichtsangehörige häufiger mal vorübergehend von Armut betroffen sind. Volker Busch-Geertsema,

Bremen

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