Armee marschiert in die Favelas

Die Polizei in Rio de Janeiro gilt als korrupt und unfähig, der Kriminalität Herr zu werden / Jetzt soll Brasiliens Militär gegen das Organisierte Verbrechen zu Felde ziehen  ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange

Für die Einwohner Rio de Janeiros ist der Anblick schwerbewaffneter Uniformierter in den Straßen vertraut: Schon während der UN-Umweltkonferenz im Juni 1992 sorgte die Armee für die Sicherheit der Delegierten. Nun sollen die Soldaten erneut aus ihren Kasernen ausrücken. Ihr Marschbefehl: der Kampf gegen das Organisierte Verbrechen.

Brasiliens Präsident Itamar Franco und Nilo Batista, der Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro, einigten sich am Montag abend darauf, daß das Militär bis zum 30. Dezember die Leitung der Polizei und des Justizministeriums im Bundesstaat übernehmen soll. Die Polizei soll mit schweren Waffen aus Armeebeständen ausgerüstet werden, und bei Razzien sollen Armeehubschrauber und Panzer zum Einsatz kommen. Der Eingriff der Armee soll die Expansion krimineller Banden einschränken, die Waffenzufuhr für den Drogenhandel unterbrechen sowie die Welle von Unternehmer-Entführungen und Überfällen auf Geldtransporte bremsen.

„In Rio tobt ein Krieg zwischen gutbezahlten Drogenhändlern und schlechtbezahlten Polizisten“, erklärte Präsident Itamar Franco. Die von ihm zwei Monate vor dem Ablauf seiner Amtszeit angestrengte Aktion soll verhindern, daß Rio de Janeiro sich in ein „neues Medellin“ verwandelt. Rios Gouverneur Nilo Batista gibt sich weniger optimistisch: „Ich erwarte keine Wunder“, erklärte der ehemalige Sekretär für Sicherheitsfragen. Es habe keinen Sinn, wahllos alle Elendsviertel der Stadt zu stürmen und dadurch individuelle Rechte zu verletzen. „Wir versuchen lediglich, das Recht auf Sicherheit wieder herzustellen, das straflos mißachtet wurde“, rechtfertigt er seine Zustimmung zu dem Eingriff.

Während der Sitzung mit Präsident Itamar Franco bemühte sich Batista, mit zahlreichen Statistiken zu beweisen, daß im Großraum São Paulo mindestens ebensoviele Verbrechen begangen werden wie in Rio. Beide brasilianischen Großstädte verzeichnen bis zu 600 Morde pro Monat. In Rio de Janeiro allerdings ist nach geheimen Ermittlungen des Militärs die Verflechtung zwischen Polizei und Unterwelt so groß, „daß die Veröffentlichung von Namen einem Angriff auf die demokratische Ordnung gleichkäme“, sagte ein hochrangiger Offizier der Zeitung Jornal do Brasil.

Nach Ansicht von Reserveoberst Geraldo Cavagnari, Leiter des Instituts für Strategiestudien an der Universität „Unicamp“ im Bundesstaat São Paulo, hat die Bekämpfung des Organisierten Verbrechens nur Erfolg, wenn sie mit einer Säuberungsaktion innerhalb der Polizei selbst beginnt. „Die Polizei von Rio ist verfault und mit der Unterwelt zutiefst verstrickt“, erklärt der Reserveoberst. Der pensionierte Staatsanwalt Doreste Batista hält die öffentliche Diskussion für schädlich: „Wozu einen Vertrag unterschreiben? Es reicht ein Telefongespräch. Jetzt haben die Verbrecher genügend Zeit zur Flucht.“ Und schon am Montag kursierten Berichte, Banden aus Rio würden große Mengen an Waffen, Rauschgift und Falschgeld vor dem Zugriff der Behörden in Sicherheit bringen.

Während sich die brasilianische Öffentlichkeit in den Medien über die Pro und Contras einer militärischen Intervention streitet, gewährt der Drogenhändler Flavio Negao der brasilianischen Tageszeitung Folha de São Paulo in aller Ruhe ein Interview im Elendsviertel „Vigario Geral“ in Rio de Janeiro. „Von hier gehe ich nicht weg, hier fühle ich mich sicher“, erklärte der 24jährige Favela-Bewohner gegenüber der Zeitung.

Flavio Negao ist bekannt: In dem kürzlich von dem brasilianischen Schriftsteller Zuenir Ventura veröffentlichten Buch „Geteilte Stadt“ beschreibt der Drogenhändler freimütig, wie er eine Frau ermordete, Überfälle organisiert und für „Ordnung“ in der Favela sorgt, die im vergangenen Jahr mit einem Massaker an 21 unschuldigen Opfern Schlagzeilen machte. Wer innerhalb der Favela stiehlt, so das Gesetz Negaos, wird mit einem Schuß durch die Hand bestraft. Negao blieb unbehelligt. Der Leiter der nächstgelegenen Polizeiwache erklärte auf Anfrage, von einem Haftbefehl gegen Flavio Negao sei ihm nichts bekannt.

Menschenrechtsgruppen halten den Armee-Einsatz für sinnloses Wahlkampfgetöse anläßlich der bevorstehenden Gouverneurswahlen am 15. November, und auch Flavio Negaos Studienkollege Caio Ferraz glaubt nicht an den Erfolg der militärischen Intervention. Entscheidend sei es, den Jugendlichen aus der Favela andere Zukunftsmöglichkeiten zu bieten. „Wenn wir uns schon in einem Krieg befinden, wieso bieten sie dann nicht eine Amnestie und das Recht auf eine Berufsausbildung für diejenigen an, die ihre Waffen abgeben“, provoziert der Soziologe, der in „Vigario Geral“ aufwuchs. „Drogenhändler sind ersetzbar“, weiß der 26jährige und fügt hinzu: „Ich habe bereits 18 Bosse kennengelernt, 13 sind tot, vier gefangen. Nur Flavio Negao agiert noch.“