Mach's noch einmal, George!

Michael Verhoeven verfilmt George Taboris Geschichte „Mutters Courage“ – ein Drehbericht  ■ Von Thorsten Schmitz

„Achtung, Ruhe bitte!“ ruft die Regieassistentin und scheucht Passanten von der Wiese im Lustgarten hinterm Berliner Dom. George Tabori friert erbärmlich und formuliert zum 19. Mal den gleichen Satz. Seine Lippen sind ihm festgefroren, die Regieassistentin macht mit ihm Mundgymnastik.

„Budapest am Morgen eines heißen Sommertages, in einem hervorragenden Erntejahr für den Tod.“ Verhoeven motiviert Tabori ein ums andere Mal um eine andere Intonation, Tabori steht in seinem curryfarbenen Dufflecoat da wie ein Schauspielschüler bei einer Prüfung. „Es ist ein komplizierter Satz“, sagt Verhoeven, „aber er stammt von dir, George.“

Eine unglaubliche Geschichte wird hier gedreht. An einem schönen Sommertag in Budapest macht sich Elsa Tabori auf den Weg zu ihrer Schwester. Die beiden Damen sind zum Romméspiel verabredet wie jeden Tag, und man schreibt das Jahr 1944. An einer Straßenbahnhaltestelle sprechen zwei ungarische Geheimpolizisten Elsa Tabori vollendet höflich an und erklären ihr, sie sei festgenommen. Frau Tabori will wissen: „Wieso?“ Die Männer antworten: „Sie werden deportiert.“ Das bringt ihren Zeitplan durcheinander: „Jetzt?“

Sie weint nicht, kriegt keinen Nervenzusammenbruch, sie will nur herausfinden, ob es denn ausgerechnet in diesem Moment sein müsse. Es muß, und so sperrt man sie mit 4.031 anderen Juden in Viehwaggons. Die Fahrt endet in Auschwitz. Nicht für Elsa Tabori. Einer abenteuerlichen Lüge und womöglich ihren blauen Augen hat sie es zu verdanken, daß ein deutscher SS-Offizier sie wieder zurückschickt nach Budapest. Zwölf Stunden später als verabredet erreicht sie die Wohnung ihrer Schwester Martha. Die fragt noch nicht einmal nach.

Diese Episode hat so stattgefunden, dafür würde Elsas Sohn, George Tabori, jederzeit seine Hand ins Feuer legen. Er hat ihr ein kleines Denkmal errichtet, das „Mutters Courage“ heißt und 1979 in den Münchner Kammerspielen uraufgeführt wurde. Die Mutter spielte damals Hanna Schygulla.

15 Jahre später wird diese absurde Geschichte noch einmal erzählt, auf Celluloid. In der Hauptrolle: George Tabori, der Theatermacher, der von sich selbst sagt: „Ich wäre kein Jude, wenn die Deutschen mich nicht daran erinnert hätten.“

Vielleicht hätte Tabori im Sessel sitzen sollen

Drei Monate drehte Michael Verhoeven in Tschechien, Ungarn und Berlin an der Filmversion von Taboris Kurzgeschichte. Verhoeven will einen „richtigen Kinofilm“ machen, ein Halbdokudrama. Zum Beispiel wird in „Mutters Courage“ zu sehen sein, wie Menschen aus ihrem alltäglichen Leben gerissen wurden. Am Tag der Deportation läuft ein Schlächter noch mit dem Messer in der Hand zum Zug, einem anderen Mann klebt Zahnpasta in den Mundwinkeln.

„Man hat ihnen noch nicht einmal die Zeit gelassen, sich auf die Deportation vorzubereiten“, sagt Verhoeven, der sich in „Die weiße Rose“ und „Das schreckliche Mädchen“ mit ähnlichen Sujets beschäftigt hat. Er hätte Tabori auch in einem Sessel sitzen und ihn die Geschichte nur erzählen lassen können. „Das wäre sicher ein wunderbarer Film geworden. Vielleicht der schönere.“

Tabori selbst tritt als Conférencier, Zeitzeuge, Erzähler und Kommentator auf. Im Frühjahr kommt die 11,5 Millionen Mark teure Produktion, an der mehrere deutsche Fernsehsender beteiligt sind, in die Kinos. Auf der Berlinale sollte „Mutters Courage“ eigentlich laufen, aber Verhoeven will sich mit dem Schnitt viel Zeit lassen. Außer Tabori spielen Ulrich Tukur (Offizier), Pauline Collins (Mutter), Heribert Sasse und Taboris Lieblingsschauspieler, der Krüppel Peter Radtke.

Für George Tabori, der wegen eines Schlaganfalls im letzten Jahr schlecht hört und manchmal redet wie in Zeitlupe, waren die Dreharbeiten eine ständige Konfrontation mit der eigenen Geschichte. In Budapest, wo Zwilling Tabori am 24. Mai 1914 zur Welt kam, drehte Verhoeven eine Szene im Flur des Hauses, in dem Tabori aufgewachsen ist. Tabori war neugierig, wie die Wohnung von damals wohl heute aussehen mag – und klingelte bei den neuen Mietern. Die waren überrascht, ließen ihn aber gucken. „Ich habe fast nichts wiedererkannt“, sagt Tabori.

Ende November hat Taboris erste Oper in Leipzig Premiere, „Moses und Aron“ von Schönberg. Wegen der Proben mußten die Dreharbeiten ständig unterbrochen werden. In Berlin wurden in diesen Tagen die letzten Szenen gedreht, die man im Film zuerst sieht.

Symbolträchtiger Abfall wird verbrannt

Die letzte Szene, die an diesem Tag gedreht wird, stinkt zum Himmel. Putzfrauen schmeißen blaue Müllsäcke auf einen mit Erde gefüllten Container, Pappbuchstaben von Taboris 80. Geburtstag und Dutzende kleiner Plastikpuppen kommen dazu. Ein Pyrotechniker läßt den symbolträchtigen Abfall in Flammen aufgehen. Tabori kriegt nichts davon mit, er muß sich aufwärmen im Wohnwagen.

Merkwürdigerweise wollten drei Produktionsgesellschaften aus drei verschiedenen Ländern zur gleichen Zeit „Mutters Courage“ verfilmen. Tabori gab Verhoeven das Placet, obwohl sie sich erst beim Drehen kennenlernten. „Heute abend besorge ich dir Moonboots, damit du den Dreh überlebst“, sagte Verhoeven einmal. „Dicke Socken auch?“ fragte Tabori.

An „Mutters Courage“ haben Verhoeven die „absurden Elemente innerhalb einer absurden Geschichte“ fasziniert. Und Taboris Sprachkunst: „Georges Art, die Welt zu beschreiben, ist weit weg von der feierlichen Grundhaltung, mit der wir normalerweise solche Stoffe behandeln.“ Der Witz und das Grauen liegen bei Tabori immer dicht beieinander. In „Mutters Courage“, das er dem aberwitzig glückhaften Überleben seiner Mutter gewidmet hat, fragt einer der Deportierten im Todeszug: „Gibt es hier einen Speisewagen?“

Taboris Mutter, würde sie noch leben, wäre „entsetzt“ über Film und Buch. Sagt ihr Sohn, der noch heute so von ihr redet, als sei sie nur mal eben einkaufen gegangen. Sie wäre entsetzt, „weil sie eine altmodische Person war. Sie würde sagen: So war es nicht.“

Tabori steht voll und ganz hinter Verhoevens Film – aber einen Zugang zu ihm hat er nicht finden können. „Meine Beziehung zu dem Film ist schwierig. Ich habe als Schauspieler agiert, aber meine persönliche Sache konnte ich nicht finden. Ich sollte eigentlich leiden, aber ich leide nicht.“ Seit mehreren Jahren wacht Tabori, wie er auf dem Set erzählt, nachts immer um „dreiviertel zwei für eine halbe Stunde“ auf. Die schlaflose Zeit überbrückt er mit Zigaretten, einer Orange und einem Zwiegespräch mit sich selbst. Auch in der letzten Nacht hat Tabori mit Tabori geredet, bis Tabori seinen „Bruder“ anraunzte: „Laß mich in Ruhe und schlafen!“ Dabei hatte Tabori den zweifelnden Tabori nur überzeugen wollen: „George, der Film mit Verhoeven ist gut für dich.“