■ Wie kommt Berlin zu neuen Mehrheiten? Nur wenn in Ostberlin Basisgruppen unterstützt werden und die Quarantänepolitik gegenüber der PDS aufgegeben wird, kommen die Grünen voran / Eine Debatte
: Das Glas ist halbleer, nicht halbvoll

Ein Jahr vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus sieht es für ein Reformbündnis schlecht aus. Grund sind die miesen Ergebnisse der Ostgrünen bei der Bundestagswahl. Vorschläge für eine profilierte Politik der Bündnisgrünen machen Willi Brüggen (Westler), Jochen Esser (Westler) und Andreas Schulze (Ostler). Alle drei waren Mitglieder des höchsten Gremiums der Partei, des geschäftsführenden Ausschusses. Andreas Schulze ist gegenwärtig Redakteur des theoretischen Parteiorgans „Stachelige Argumente“.

Die Regierung Kohl ist aus der Bundestagswahl geschwächt hervorgegangen, und Bündnis 90/Die Grünen kehren in Fraktionsstärke in den Bundestag zurück. Das ist die erfreuliche Seite dieser Bundestagswahl und eröffnet uns Perspektiven für die Zukunft. Wir können allerdings über zwei Fakten nicht hinwegsehen. Erstens haben wir trotz Kohls miserabler Regierungsbilanz unser zentrales und erklärtes Wahlziel nicht erreicht, die bürgerliche Regierung zu kippen. Zweitens haben wir die Dreispaltung der Opposition nicht verhindern können. Damit ist die rot- grüne Option zunächst verschüttet, und es wird schwierig werden, der SPD den Weg in eine große Koalition der Besitzstandswahrer zu versperren.

Wirklich bedrückend aber ist der Umstand, daß wir uns in Ostdeutschland nach dem katastrophalen Wahlergebnis einer lebensbedrohlichen Krise gegenüber sehen, deren Ausgang nicht abzusehen ist. Unwillkürlich drängt sich die Frage auf, wo die versprochene segensreiche Wirkung des gleichberechtigten Zusammenschlusses von Bündnis 90 und Grünen eigentlich geblieben ist? Vor die Frage gestellt, ob das Glas – insgesamt gesehen – halbvoll oder halbleer ist, wird man ehrlicherweise zugeben müssen, daß letzteres der Fall ist.

Als Berliner sind wir „mittenmang“. Waren wir bei der Bezirkswahl 92 in Ost und West bei rund 13 Prozent noch gleichauf, haben wir binnen zweier Jahre im Osten einen Rückgang von 72.000 auf 50.000 Wähler zu verzeichnen und damit real fast ein Drittel unserer Wähler verloren.

Der allgemeine Rückfall in die antikommunistische Rhetorik des Kalten Krieges hat die PDS nur gestärkt. Auch unser eigener Beitrag zur Quarantänepolitik hat bei den Wählerinnen und Wählern vorhersehbar geringen Anklang gefunden. Die PDS beginnt in unsere Hochburgen in der westlichen Innenstadt einzudringen, ihre Wanderungsbilanz gegenüber uns ist positiv, und jeder vierte unserer Wähler im Osten hat mit seiner Erststimme die PDS-Kandidaten gewählt.

Es ist höchste Zeit, innezuhalten und über folgende Punkte intensiv nachzudenken:

1. Eine rasche Neuorientierung bündnisgrüner Politik ist unausweichlich, wenn von der Berliner Landtagswahl eine Wende zum Besseren ausgehen soll. Die „Stasi- Debatte“ einzustellen, steht dabei außer jeder Diskussion.

2. Immer dringender wird, daß wir neben einzelnen, konkreten Regierungs- und Reformprojekten auch über ein oppositionell geschärftes, allgemeinpolitisches Profil verfügen, das in von uns angestrebten Richtungsentscheidungen Orientierung bietet.

Um als eigenständig wahrgenommene Kraft aus dem Schatten der SPD herauszutreten, werden wir wieder den Mut finden müssen, Reformkonzepte so zu formulieren, daß sie sich strikt auf der Höhe des zu lösenden Problems bewegen – auch wenn sie dadurch den Horizont des unmittelbar und koalitionspolitisch Machbaren übersteigen.

3. Dabei wird es für uns – heute schon im Osten, morgen auch im Westen – zur Überlebensfrage, Mittel und Wege zu finden, die Ökologie als Thema der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik durchzusetzen. Unsere Berliner Vorschläge zur Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit und sozialer und kultureller Spaltung fußen darauf, daß sich Berlin nach dem Ende der Spaltung Europas und im Zuge des Hauptstadtbeschlusses spontan zu einer Dienstleistungsmetropole entwickelt, die unter außenwirtschaftlichen und steuerpolitischen Gesichtspunkten nicht mehr gezwungen ist, weiterhin Milliarden DM in abwanderungswillige Altindustrien und in zweifelhafte Großprojekte des Senats zu stecken.

Statt dessen sollte sich die Stadt erstens auf das besinnen, wo schon jetzt ihre Stärken liegen (z.B. Wissenschaft und Bildung, Kultur und Medien, Tourismus, pharmazeutische Industrie, Mikroelektronik und Software, Elektro- und Verkehrstechnik) und zweitens sich darauf konzentrieren, für die in der Massengüterindustrie Freigesetzten neue Arbeitsplätze zu schaffen, die deren Qualifikation entsprechen. Das ist gerade in den von uns favorisierten Sektoren zum ökologischen Stadtumbau in besonderer Weise der Fall. Deshalb wollen wir mit eingesparten Industriesubventionen, erhöhter Gewerbesteuer und kommunalen Ökoabgaben ein Netzwerk aus öffentlichen Aufgaben, Betrieben, Forschungseinrichtungen, arbeitsmarktpolitischen Instrumenten und gesellschaftlicher Eigeninitiative knüpfen, das eine ökologische und sozial verträgliche Infrastruktur für die Diensleistungsmetropole Berlin ermöglicht.

Diese Alternative sichtbar zu machen, dürfte die zentrale Aufgabe im Berliner Wahlkampf sein, wenn wir vorwärtskommen wollen.

4. Eine Reformmehrheit an der stärksten politischen Partei Ostberlins vorbei wird es in Berlin wahrscheinlich nicht geben. Wir dürfen uns in dieser Frage weder von tatsächlichen oder vermuteten Überlegungen der SPD abhängig machen noch Gefangene eigener Mitglieder bleiben, die im Umgang mit den Postkommunisten offenbar päpstlicher als z.B. Jaczek Kuron oder Adam Michnik sein möchten. Die fundamentale Abgrenzung von der PDS hat sich sichtbar nicht bewährt, weil uns die damit notwendig verbundene Frontstellung auch gegen demokratische Formen sozialistischen Selbstverständnisses zunehmend von unserer potentiellen Kernwählerschaft im Osten, der großstädtischen Szene und der kritischen Intelligenz, isoliert.

5. Leider fand sich nach dem Zusammenschluß von Grünen und Bündnis 90 nur ein Teil der Bürgerbewegungen in der gemeinsamen Organisation wieder. Verbunden mit der ostdeutschen Reserve gegen Parteipolitik überhaupt hat dieser Umstand zu einem sektiererischen Verlauf des Parteiaufbaus im Osten geführt, der uns von den Bürgerinitiativen und Projekten in vielen Bezirken Ostberlins abgespalten hat und unsere kleine, mit politischen Mandaten überhäufte Mitgliederschar im außerparlamentarischen Raum überfordert.

Neben den auch objektiv günstigeren Bedingungen in Prenzlauer Berg, dem Norden von Mitte und Friedrichshain halten wir es für keinen Zufall, daß die Wahlergebnisse dort deutlich besser sind als in anderen Ostberliner Bezirken. In diesen Bezirken war es schon bei den BVV-Wahlen 1992 nach heftigen Auseinandersetzungen mit führenden Köpfen des damaligen Bündnis 90 gelungen, alle Strömungen der Bürgerbewegung zu einer gemeinsamen Kandidatur zu bewegen und nicht den Weg der Ausgründung unserer Bezirksgruppen aus den örtlichen Initiativzusammenhängen zu gehen. Zur Bundestagswahl haben wir dort unseren Stimmenanteil halten oder erhöhen können.

Diesen Weg der Kräftesammlung und Verbindung mit der Basisbewegung müssen wir stärken: Lieber in der BVV mal was liegen lassen zugunsten von Mitarbeit in Basisinitiativen und -projekten, gelassener Umgang mit dort anzutreffenden PDS-Sympathien, keine Berührungsangst gegenüber verbreiteten Vorstellungen von irgendwie gearteten „3. Wegen“, auch wo wir sie theoretisch nicht teilen. Die Gesamtorganisation könnte sich überlegen, wie sie außerparlamentarische Tätigkeiten im Osten unterstützen kann und ob es nicht sinnvoll ist, zumindest das garantierte Drittel unserer nächsten Landesliste (Ostquote) gezielt für profilierte Vertreter aus der Initiativszene (Stadtsanierung, Jugend-, Kultur- und Frauenprojekte etc.) zu öffnen.

6. Als Grundlage für einen erfolgversprechenden Wahlkampf brauchen wir zusätzlich zum Spiegelstrich-Programm eine politische Erklärung zum Wirtschafts- und Arbeitsstandort Berlin, in der wir unsere Vorstellung von der Metropole Berlin in Auseinandersetzung mit der Politik der Großen Koalition entwickeln und in einem halben Dutzend Reformprojekten zuspitzen. In dieser Wahlaussage ist die damit verbundene Koalitionsaussage bereits angelegt: Wir beteiligen uns an einer Regierung, die die von uns angestrebte Stadtentwicklung befördert und uns die Umsetzung unserer zentralen Reformprojekte ermöglicht. Davon schließen wir keine Partei aus – auch nicht die PDS.

In der Debatte erschienen bisher: „Aufbau Ost statt Nachbau West“ (21.10.), „Gebremstes Wachstum im Osten“ (25.10.) und „Was signalisiert die Sonnenblume“ (3.11.)