Gregor Gsyi: "Sie jagen mich als einzelne Person, wollen mich aus der Politik ausschalten"

1.

Mir liegen die an die Presse übergebene Dokumentation und verschiedene Agentur- und Zeitungsmeldungen über die Pressekonferenz von Bärbel Bohley, Katja Havemann, Jürgen Fuchs, Vera Wollenberger und Gerd Poppe am 28. 10. 94 vor. Auffällig ist, daß sich in allen mir bekannten Meldungen die Forderung der genannten Personen widerspiegelt, daß ich mein Bundestagsmandat ruhen lassen solle. Abgesehen davon, daß es so etwas rechtlich gar nicht gibt, wird darin immerhin die Zielstellung deutlich. Denn das Bundestagsmandat soll ich ja nur ruhen lassen, um mich künftig politisch nicht mehr zu äußern. Was treibt eigentlich gerade diesen Personenkreis dazu, den Versuch zu unternehmen, mich politisch mundtot zu machen? Und das, obwohl sie wissen, mit welcher Genugtuung dies gerade in den rechtesten Kreisen unserer Gesellschaft aufgenommen werden würde?

2.

Eine durchgehende Argumentation übrigens auch in der Solidaritätserklärung „Herr Gysi – es reicht“ vom 24. 10. 94 besteht darin, daß ich versuchen würde, Bärbel Bohley und andere zum Schweigen zu bringen. In der Erklärung heißt es dazu wörtlich: „Wir erkennen darin eher die Fortsetzung der alten Strategie der SED gegen ihre damaligen und heutigen Feinde mit den neuen Mitteln eines Rechtsstaates, der in einer politischen Situation Recht schaffen soll, auf die er nicht eingerichtet ist. Die alte Strategie heißt: Unterdrücken, Einschüchtern, Abwürgen, Untersagen.“

Bemerkenswert ist, daß dieser schwerwiegende Vorwurf sich eigentlich gar nicht gegen mich, sondern gegen die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland richtet. Denn ich kann ja höchstens versuchen, eine Unterlassungsverfügung beim Gericht zu erwirken. Nur das Gericht kann sie erlassen. Wenn also der Vorwurf begründet wäre, dann hieße dies übersetzt, daß die Gerichte in Deutschland die alte Strategie der SED fortsetzen.

Einer solchen Kritik schließt sich dann, wie sich aus der Gruppe der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner ergibt, selbst die Bundesministerin Merkel an. Aber wer den Rechtsstaat nur dann akzeptiert, wenn die Entscheidungen den eigenen Vorstellungen entsprechen und ihn dann ablehnt, wenn er ungeliebte Personen schützt, will ihn nicht wirklich. Dahinter sehe ich viel eher ein für die SED typisches Denken, daß nämlich Gerichte den eigenen Vorstellungen zu folgen haben und keinen anderen.

Bemerkenswert in der Erklärung vom 24. 10. 94 ist auch der Folgesatz, in dem die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner darauf hinweisen, daß sie sich früher schon nicht einschüchtern ließen und heute erst recht nicht. Und so etwas unterschreibt dann auch eine Frau Merkel, die damit zum Ausdruck bringen will, daß sie schon früher heldinnenhaft Widerstand geleistet hat. Das hat zwar mit historischen Realitäten nichts zu tun, aber wer würde sich heute nicht gern in eine solche Gruppe einreihen?

Verwunderlich ist auch die Unterschrift von Rainer Eppelmann, der mein Mandant war und nach eigenen Bekundungen in seiner Staatssicherheits-Akte nicht den geringsten Hinweis auf mich gefunden hat, obwohl ich ihn zum Beispiel gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft der DDR vertreten habe, als in seiner Wohnung Abhöranlagen gefunden wurden.

Frau Barbe, der ich zu DDR- Zeiten nie begegnet bin, unterzeichnet die Erklärung offensichtlich aus einem Irrtum heraus. Sie glaubt, daß sie im Falle der Niederlegung meines Mandats als Zweitplazierte in meinem Wahlkreis in den Bundestag nachziehen würde. Aber selbst wenn ich ihrem Wunsch entspräche, würde nicht sie, sondern Petra Pau von der Landesliste der PDS nachrücken.

Andere müssen sich wenigstens fragen lassen, weshalb sie eine Erklärung gegen mich unterschreiben, obwohl sie mich und meine Tätigkeit weder kennen noch beurteilen können.

Zweifelhaft ist bei allen Beteiligten nicht nur der Umgang mit Gerichtsurteilen, sondern auch mit den Ergebnissen der Arbeit der von ihnen hoch geschätzten Gauck-Behörde und des zuständigen Bundestagsausschusses. Die Gauck-Behörde hat mehrfach die Auskunft erteilt, daß sie sich außerstande sieht, einen Nachweis dafür zu führen, daß ich ein IM war. Sie bestätigte auch, daß die vorgelegten Quittungen keinesfalls beweisen, daß ich Zuwendungen von der Staatssicherheit erhielt. Und der zuständige Bundestagsausschuß, in dem von einer Ausnahme abgesehen niemand saß, der mir gegenüber eine wohlwollende Haltung einnimmt, sah sich zumindest in der letzten Legislaturperiode zu der Feststellung veranlaßt, daß eine Zusammenarbeit zwischen mir und der Staatssicherheit nicht nachgewiesen ist. In diesem Ausschuß wirkte sogar Gerd Poppe mit, obwohl man gegen die Identität von Ankläger und „Richter“ auch Einwände erheben könnte. Wie gewichtig wäre es in den Augen der gleichen Personen, wenn sich Gerichte, Gauck-Behörde und Bundestagsausschuß gegen mich gestellt hätten? Aber im umgekehrten Falle sind alle Urteile und Feststellungen nichts wert, denn sie widersprechen der politischen Zielstellung gegen mich.

3.

Die massiven Angriffe inklusive der entsprechenden Medienmeldungen sind nicht neu. Es gab sie schon Anfang 1992. Der einzige Unterschied besteht darin, daß damals die aktiven Politikerinnen und Politiker in Bonn sich heraushielten, während sie diesmal geneigt sind, sich an der Kampagne zu beteiligen. Und hier fragt sich schon, weshalb sie es damals nicht taten und es heute für erforderlich halten. Für mich gibt es nur eine Erklärung: Anfang 1992 gingen sie davon aus, daß sie sich die Hände nicht schmutzig machen müssen, weil sich die PDS bei den Bundestagswahlen 1994 sowieso erledigt haben wird. Jetzt sind sie eines Besseren belehrt worden und scheuen deshalb kein Mittel mehr in der politischen Auseinandersetzung. Wie sonst kommt ein SPD- Abgeordneter wie Herr Bernrath dazu, von mir das Ruhen des Mandats zu verlangen, obwohl er nicht ein einziges Aktenstück kennt und obwohl er so etwas zum Beispiel bei Herrn Stolpe zu keinem Zeitpunkt verlangt hat? Aber nicht einmal das fällt in der heutigen Medienwelt auf.

4.

Laut Agenturmeldungen will Bärbel Bohley mich in einen Prozeß zur Hauptsache zwingen. Dieser Weg war ihr bereits im Einstweiligen Verfügungsverfahren vom Hamburger Oberlandesgericht in der mündlichen Verhandlung nahegelegt worden. Damals lehnte sie ihn ab. Wenn sie nunmehr diesen Weg beschreiten will, so soll sie ihn gehen.

5.

Angeblich geht es den Veranstaltern der Pressekonferenz vom 28. 10. 94 um die Wahrheit und um die Durchsetzung von Bürgerrechten. Aber wie kommen die betreffenden Personen zum Beispiel dazu, Akten von Bettina Wegener und Rudolf Bahro zu veröffentlichen, ohne diese auch nur zu fragen? Und weshalb veröffentlichen sie in bezug auf meine Person nur die ihnen genehmen Auszüge und nicht das vollständige ihnen vorliegende Material?

Sie überreichen zum Beispiel den MfS-Beschluß über das Anlegen eines IM-Vorlaufes in bezug auf meine Person. Sie weisen aber nicht darauf hin, daß dieser IM- Vorlauf niemals zu einem IM-Vorgang wurde. Sie überreichen auch nicht den Abschlußbericht und auch nicht den Beschluß, in dem begründet wurde, weshalb der IM- Vorlauf archiviert wurde. Denn dann hätten sie ein Dokument veröffentlichen müssen, aus dem sich ergibt, daß ich aus der Sicht der Staatssicherheit für eine IM-Tätigkeit ungeeignet war. Und sie veröffentlichen auch nicht die Begründung über die Einleitung einer Operativen Personen-Kontrolle (OPK) gegen mich. Aus ihr wiederum ergibt sich, daß es sich keineswegs um eine „Schein-OPK“ handelte, sondern um eine Kontrolle, die aus Verdachtsmomenten gegen mich resultierte.

In einem Schreiben vom 26. 10. 94 belegt Wolfgang Schmidt, der Leiter einer Diensteinheit der Staatssicherheit war, daß auch aus Gründen der Art und Weise der Registrierung des OPK-Vorganges eine fiktive Erfassung ausgeschlossen ist. Wenn ich im übrigen bis zur Einleitung der OPK gegen mich ein aktiver Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen wäre, würde sich dies in der Begründung zur Einleitung der OPK widerspiegeln, zumal es sich um die gleiche Hauptabteilung handelte. Es wäre dargelegt worden, weshalb nach jahrelanger Kooperation Verdachtsmomente gegen mich entstanden sind. Allein die Tatsache, daß in der Begründung zur Einleitung der OPK gegen mich mit keiner Silbe eine bisherige Zusammenarbeit erwähnt wird, ist ein Nachweis dafür, daß es sie auch nicht gegeben hat.

Aber eine Auseinandersetzung mit all diesen Fragen findet nicht statt. Statt dessen wird von einer Umregistrierung zu „Sputnik“ gesprochen. Selbst die Veranstalterinnen und Veranstalter der Pressekonferenz müßten aus ihrer Sicht wenigstens einräumen, daß die Aktenlage widersprüchlich ist. Aber dazu sind sie nicht bereit, weil diese Wahrheit mit ihrem vorgefaßten Ziel nicht in Einklang zu bringen ist.

Dazu paßt auch, daß Bärbel Bohley während der Verhandlung vor dem Oberlandesgericht Hamburg immerhin versucht hat, das Gericht zu täuschen. Denn sie legte einen Vermerk des Justizministeriums der DDR mit dem Hinweis vor, daß sich darauf eine handschriftliche Notiz des Staatssicherheits-Offiziers Lohr befände, aus der sich ergeben würde, daß er mit mir telefoniert und sich mit mir verabredet hätte. Wie aber nachgewiesen werden konnte, handelte es sich in Wirklichkeit um die handschriftliche Notiz eines Hauptabteilungsleiters aus dem Ministerium für Justiz, mit dem ich tatsächlich telefoniert und mich verabredet hatte. Wozu sind solche Methoden erforderlich, wenn es nur um die Wahrheit geht?

6.

Immer wieder wird mir vorgeworfen, daß ich nicht den mir möglichen Beitrag zur Aufklärung geleistet hätte. Die Vorwürfe gehen noch weiter, wie sich aus der Erklärung vom 24. 10. 94 ergibt. Angeblich würde ich „verschleiern“ und mit allen Mitteln versuchen, die Wahrheitsfindung zu unterdrücken. Immerhin hat das Oberlandesgericht Hamburg in seinem Urteil auf Seite 14 folgendes dazu festgestellt: „Jedenfalls inzwischen können ihm auch Untätigkeit oder gar ein ,Mauern‘ nicht mehr vorgehalten werden. Er ist auf alle vorgebrachten Aspekte eingegangen und hat – auch mit seinen eidesstattlichen Versicherungen und den von ihm überreichten zahlreichen Unterlagen – Rede und Antwort gestanden“. Außerdem werde ich überschätzt. Ich bin weder die Gauck-Behörde noch die Generalbundesanwaltschaft, noch ein Geheimdienst. Ich habe auch nicht wie die Veranstalterinnen und Veranstalter der Pressekonferenz eine Fülle von Journalistinnen und Journalisten an meiner Seite, die für mich recherchieren. Und ich habe im Unterschied zu ihnen auch nicht permanenten Zugang zu Akten der Gauck-Behörde. Das, was in meinen Kräften steht, habe ich versucht. Im Unterschied zu ihnen bin ich nur zu einem nicht bereit, nämlich Verdächtigungen in die Welt zu setzen, mit denen ich gegebenenfalls Unschuldige verletze und erheblich schädige. Ich empfinde die Pflicht, mich gerade in einer solch schwerwiegenden Angelegenheit nicht zu irren.

7.

Immer wieder treffe ich die Methode an, mir oder anderen Verteidigungsargumente zu unterstellen, die dann als Beweis gegen mich widerlegt werden, obwohl diese Verteidigungsargumente nie benutzt wurden. So erklärt zum Beispiel Bärbel Bohley laut Agenturmeldungen, daß es sich bei dem „Notar“ weder um einen „Aktenordner“ noch um eine „Schublade“ gehandelt habe. Offensichtlich will sie damit Erklärungen des ehemaligen Staatssicherheits-Offiziers Lohr widerlegen. Seine Aussage ist jedoch eine ganz andere. Er hat erklärt, daß es sich um eine Sammelakte handelte, in die alle Informationen in bezug auf meine Tätigkeit geflossen sind, und zwar offizielle und inoffizielle Informationen. Darunter waren auch Informationen von inoffiziellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Damit hat er im Unterschied zu der scheinbar widerlegten Behauptung sogar erklärt, daß „Notar“ mehr als nur ein IM war.

Aber auch diese Methode ist nicht neu. So wurde mir mehrfach unterstellt, daß ich eine bestimmte Information mit Abhörmaßnahmen erklärt hätte, obwohl diese Information mit Abhörmaßnahmen gar nicht gewonnen worden sein kann. In Wirklichkeit hatte ich in den entsprechenden Fällen dieses Argument nicht benutzt. Auch solche Methoden sprechen nicht für Redlichkeit.

8.

Von besonderem Wert in den Agenturmeldungen ist eine Quittung, wonach für den „Decknamen bzw. Verwendungszweck“ „Notar“ an den Staatssicherheits- Offizier Lohr 45,60 Mark der DDR ausgezahlt wurden. Das Aktenzeichen ist identisch mit dem Aktenzeichen meiner Vorlauf- Akte. Aber wer den Brief von Herrn Lohr liest, wird sich darüber nicht wundern, denn unter „Notar“ sammelte er verschiedene Informationen von verschiedenen Leuten über meine anwaltliche Tätigkeit, wobei ihm durchaus auch Kosten entstanden sein können. Diese Quittung belegt also nur, daß er im Rahmen dieses Vorganges eine Auszahlung angenommen hat. Sie belegt nicht, daß sie für mich bestimmt war, geschweige denn, daß ich sie in irgendeiner Form erhalten hätte. Jeder, der sich inzwischen gerade mit der Verwendung des Kontos „6000“ der Staatssicherheit befaßt hat, weiß dies. Aber gegen mich soll dies ein untrüglicher Beweis sein. Da ich aber eindeutig niemals als inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit registriert, erfaßt oder tätig war, kann die Auszahlung mit mir auch nichts zu tun haben.

9.

Wenn ich dies alles lese, dann frage ich mich auch, weshalb Bärbel Bohley und andere über sich und ihr Zusammenwirken mit mir nie die volle Wahrheit sagen.

Der Verteidiger von Bärbel Bohley war stets Rechtsanwalt Schnur, nicht ich. Obwohl laut Jürgen Fuchs Frau Havemann keinerlei Vertrauen zu mir hatte, erschien sie im Jahre 1988 bei mir und bat mich darum, zusätzlich die Verteidigung von Frau Bohley zu übernehmen. Ich sah sie dann einmal im Beisein von Herrn Schnur, an einem Freitag in der Untersuchungshaftanstalt. Sie fragte sowohl Herrn Schnur als auch mich, ob sie sich darauf verlassen könne, nach sechs Monaten in die DDR zurückzukehren, wenn sie entsprechend dem Wunsch der Partei- und Staatsführung ausreisen würde. Herr Schnur versicherte dies, da ihm eine entsprechende Zusicherung gegeben worden wäre. Ich erklärte, daß ich dies auch versichern könnte, falls mir eine solche Zusicherung gemacht worden wäre. Ich kannte aber eine solche Zusicherung nicht. Daraufhin verabredeten wir, daß ich zum zuständigen Staatsanwalt beim Generalstaatsanwalt der DDR fahre, um mir die Zustimmung schriftlich geben zulassen. Bis dahin bat ich Frau Bohley, nichts zu unterschreiben, also weder die Untersuchungshaftanstalt noch die DDR zu verlassen. Beim zuständigen Staatsanwalt angelangt, weigerte sich dieser, mir eine entsprechende schriftliche Zusicherung zu geben. Ich drohte ihm damit, daß ich dann meiner Mandantin raten würde, auf gar keinen Fall einen Antrag auf Ausreise zu stellen. ich wußte ja, daß er politisch unter Druck stand, das „Problem“ durch Ausreise von Frau Bohley zu lösen. Er ging dennoch nicht darauf ein, und kurze Zeit später erfuhr ich auch, warum. Denn als ich in die Haftanstalt zurückkehrte, war Frau Bohley nicht mehr da. Sie hatte alles unterzeichnet und war ausgereist. Warum hatte sie meinen Rat nicht befolgt? Und warum wirft sie mir dies heute indirekt vor, obwohl es ihre eigene Entscheidung war, sicherlich unter Druck, unter den Bedingungen einer Inhaftierung und sicherlich auf Anraten von Rechtsanwalt Schnur, nicht aber auf mein Anraten. Ist das solch ein „dunkler Punkt“, den sie mir heute noch übelnimmt? Denn immerhin waren damit Probleme verbunden. Mir liegt ein persönlicher Brief von Frau Bohley an mich aus dem März 1988 vor. (Übrigens scheint sie in ihrer Stasi-Akte kein Duplikat davon gefunden zu haben, zumindest hat sie das noch nie behauptet. Mich wundert das allerdings, denn sie hat mir diesen Brief aus Großbritannien geschrieben.) Fernmündlich teilte sie mir mit, daß sie ihr Vertrauen zu Herrn Schnur verloren habe, zu mir aber Vertrauen gewonnen hätte. Offensichtlich hing dies eben mit der unterschiedlichen Beratung in der Haftanstalt zusammen. Auf jeden Fall heißt es in ihrem Schreiben vom 8. 3. 88 an mich: „Ich hoffe sehr, daß Sie mich weiterhin in allen Rechtsangelegenheiten vertreten und so gut, daß ich wirklich noch die Möglichkeit habe, mit Ihnen persönlich zu reden und Sie in Berlin wiederzusehen. Leider war unser Gespräch sehr kurz, aber ich habe trotzdem den Eindruck gewonnen, daß meine Angelegenheiten bei Ihnen in den besten Händen sind. Mit den besten Grüßen bis zum 6. 8. 88.“

Der 6. 8. 88 war das Datum, an dem sie zurückkehren sollte, wenn sich die DDR an ihre Zusage hielt, sie nach sechs Monaten wieder einreisen zu lassen. Mein Problem war nur: Mir gegenüber hatte niemand eine solche Zusicherung gegeben und ich hatte auch nichts Schriftliches. Ich will heute nicht beschreiben, welche Auseinandersetzungen ich in der Abteilung Staat und Recht des ZK der SED hatte, um ihre Rückkehr zu erreichen. Ich bin auch sicher, daß sich Herr Stolpe diesbezüglich eingesetzt hat. Und tatsächlich konnte Frau Bohley kurz vor dem 6. 8. 88 zurückkehren. Ich habe sogar einen Urlaub in der ČSSR unterbrochen, um sie noch vor ihrer Rückkehr in die DDR zu sprechen.

Ich frage mich, warum dies alles heute nichts mehr wert ist. Ich frage mich gerade in diesem Zusammenhang: Weshalb haßt Frau Bohley nicht diejenigen, die sie einsperrten, ihre Observierung oder ihre „Zersetzung“ anordneten? Nein, sie haßt jene, die immerhin versucht haben, ihr zu helfen. Sie mag ja im nachhinein die Hilfe von Herrn Stolpe und auch meine kritisch bewerten, aber daß wir es versucht haben, kann sie nicht leugnen. Und ich behaupte, wenn es solche Menschen nicht gegeben hätte, hätte sie am 6. 8. 88 nicht zurückkehren können. Sollte es wirklich so billig sein, daß die einen aus ihr eine Märtyrerin gemacht haben und die anderen objektiv diese Rolle geschmälert haben und deshalb letztere Haß und Verachtung treffen?

Annedore Havemann war in sogenannten politischen Fällen nie meine Mandantin. Das hing damit zusammen, daß es gegen sie zu keinem Zeitpunkt ein Strafverfahren oder auch nur ein Ordnungsstrafverfahren gegeben hat. Vertreten habe ich sie daher nur in Erbschafts- und anderen Zivilrechtsangelegenheiten. In politischer Hinsicht war ich Anwalt ihres Mannes. Sie greift mich heute schwer an und verschweigt, welche Ergebnisse meine Arbeit für ihren Mann hatte. Keineswegs allein durch mich, aber immerhin auch durch mein Mitwirken ist es zum Beispiel gelungen, nach dem Devisenverfahren ein weiteres Verfahren gegen ihn zu verhindern, seine Teilnahme an den Feierlichkeiten zur Befreiung des Zuchthauses Brandenburg zu ermöglichen und vor allem durchzusetzen, daß – entgegen dem Wunsch der Staatssicherheit – das auf seinem Grundstück befindliche Holzhaus zu keinem Zeitpunkt durch Fremde genutzt werden konnte.

Aus diesen Gründen haben auch die vier Kinder von Robert Havemann in einem Brief an mich eine völlig andere Position bezogen als Annedore Havemann. Und ich bin davon überzeugt, daß Robert Havemann die Kampagne gegen mich nie unterstützt hätte, weil er meine Vermittlungstätigkeit gewollt und die Ergebnisse nicht geringgeschätzt hat.

Ich habe nichts dagegen, daß Annedore Havemann heute den Ehrentitel „Bürgerrechtlerin“ trägt, auch wenn ich nicht weiß, wodurch sie ihn erworben hat, wenngleich sie solidarisch an der Seite ihres Mannes die Schikanen gegen ihn mitertragen hat. Aber ich glaube, zwischen uns gibt es vor allem ein Problem: Es stimmt, daß sie nach dem Tode ihres Mannes einmal einen Beitrag in der Zeitschrift „Stern“ veröffentlichen ließ. Und es stimmt auch, daß ich ihr ausrichten mußte, daß sie mit einem Ermittlungsverfahren rechnen könne, wenn sich dies wiederholen würde, da sie nicht den gleichen Schutz genoß, den ihr verstorbener Mann trotz alledem in der DDR hatte. Und tatsächlich hat sie seit dieser Zeit nie wieder etwas öffentlich getan, was die Partei- und Staatsführung der DDR ausreichend provoziert hätte. Sicherlich bin ich in ihren Augen dafür verantwortlich, daß dadurch ihre Rolle aus heutiger Sicht eher eine bescheidene blieb. Aber ich hätte sie in Wirklichkeit gar nicht daran hindern können, irgendwelche Aktionen zu unternehmen, die von der Partei- und Staatsführung der DDR als Provokationen angesehen worden wären. Und es war doch nun einmal meine Pflicht, entsprechende Warnungen zu übermitteln. Umgekehrt wäre ein Vorwurf von ihr berechtigt, wenn ich ihr diese Warnungen vorenthalten hätte. Warum nimmt sie ihr Verhalten mir und nicht sich übel? Und warum verschweigt sie, daß ihr Mann mich im positiven Sinne genutzt hat, um den Kontakt zur Partei und zum Staat nicht völlig abbrechen zu lassen und dadurch auch einiges bewirken zu können? Hier hatte ich eindeutig die Funktion eines Mittlers, und die kann man nur ausüben, wenn man sich in die Situation beider Seiten versetzt und irgendwie versucht, ihnen gerecht zu werden. In vollständiger Konfrontation zur Partei- und Staatsführung der DDR hätte ich für Robert Havemann gar nichts erreichen können. Ein Mann wie Rudolf Bahro begreift dies nicht nur, sondern akzeptiert es auch nachträglich. Annedore Havemann dagegen verfolgt mich mit Haß.

Ganz ähnlich verhält es sich mit Gerd Poppe. Im wesentlichen habe ich nicht ihn, sondern seine Ehefrau vertreten. Gegen diese wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, sie saß in Untersuchungshaft. Gerd Poppe weiß, daß es einen Brief von ihm an mich gibt, in dem er mich darum gebeten hat, alles zu tun, um ein Strafverfahren gegen ihn zu verhindern. Wenn dies aber dennoch geschehen sollte, dann solle ich seine Verteidigung übernehmen. Heute könnte ich versuchen, diesen Satz zu „interpretieren“ und behaupten, daß er mich damit sogar beauftragt hat, zu seinen Gunsten mit der Staatssicherheit zu verhandeln, zumal die Staatssicherheit in der DDR als Ermittlungsorgan tätig war und diesbezüglich über die gleichen Rechte wie die Polizei verfügte. Wem gegenüber sollte ich denn alles versuchen, um ein Strafverfahren gegen ihn zu vermeiden?

Aber ich habe es nicht gegenüber der Staatssicherheit getan. Allerdings habe ich wegen seiner Frau und auch seinetwegen z.B. bei der Generalstaatsanwaltschaft der DDR vorgesprochen. Eine Tatsache kann Herr Poppe nicht leugnen: Es hat gegen ihn kein einziges Ermittlungsverfahren gegeben, keinen einzigen Tag saß er in Untersuchungshaft. Ist das vielleicht sein eigentlicher Vorwurf heute gegen mich?

Immer wieder wird gegen mich damit operiert, daß er mir eine Erklärung übergab, die für die Medien bestimmt war und die ich auftragsgemäß an die Generalstaatsanwaltschaft der DDR übersandt habe. Er wundert sich nun, daß es eine Kopie auch in seiner Staatssicherheitsakte gibt. Aber ist das wirklich verwunderlich? Außerdem hat er selbst erklärt, daß die Kopie in der Staatssicherheitsakte nicht identisch mit dem Original sei. Sie enthalte inhaltliche und orthographische Fehler. Aus meiner Akte ergibt sich jedoch, daß die von mir an die Generalstaatsanwaltschaft übersandte Erklärung sowohl inhaltlich als auch orthographisch fehlerfrei ist. Damit ist bewiesen, daß es zwischen der Unterlage in meiner Handakte und der Unterlage in seiner Staatssicherheitsakte keinen Zusammenhang gibt. Da aber laut einem Vermerk der Staatssicherheit der „IM Notar“ diese falsche Erklärung an die Staatssicherheit übergeben haben soll, kann ich unmöglich der Überbringer gewesen sein. Dies wäre absurd. Es würde nämlich bedeuten, daß ich nicht einfach eine Kopie der in meiner Akte befindlichen Erklärung gefertigt und an die Staatssicherheit übergeben, sondern diese neu und dann auch noch mit inhaltlichen und orthographischen Fehlern versehen an diese übergeben hätte. Ich finde aber, daß auch die Gesetze der Logik nur begrenzt gebrochen werden dürfen.

Und auch an Vera Wollenberger habe ich Fragen. Sie behauptet, daß sie mich mehrfach zum Gespräch aufgefordert hätte. Dies ist nicht wahr, obwohl es eine Korrespondenz zwischen uns gab. Aber warum bestätigt sie nicht, daß ich ihre Briefe beantwortet habe, auch die Briefe ihres damaligen Ehemannes? Nun muß zunächst eines geklärt werden. Ich war gar nicht der Anwalt von Vera Wollenberger, sondern der Anwalt ihres Ehemannes. Und der Zusammenhang war eindeutig. Auch sie hatte Anfang 1988 das „Angebot“, nach Großbritannien auszureisen. Nur war sie schon in Erster Instanz vom Gericht zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil war sie mit ihrem Rechtsanwalt Schnur in Berufung gegangen. Die Strafe konnte in Zweiter Instanz nur noch beibehalten oder gesenkt werden. Sie wußte also, daß sich die Strafe von 6 Monaten nicht mehr erhöhen konnte. Dennoch wollte sie auf das Angebot eingehen und nach Großbritannien ausreisen. Das Interesse des Staates war klar. Er wünschte die Ausreise, um auch in ihrem Falle ein „Problem“ loszuwerden. Denn ihre Inhaftierung störte die ansonsten guten Beziehungen der DDR zur BRD. Genau darin sah ihr Ehemann eine Chance. Er wollte, daß sie bleibt, und hoffte, daß sie in Kürze, entgegen der Vorstellung der Partei- und Staatsführung der DDR, doch aus der Untersuchungshaft, aber in die DDR entlassen werden würde. Wenn Vera Wollenberger mir unterstellt, daß ich ihre Ausreise betrieben hätte, dann stellt sie die Wahrheit auf den Kopf, denn ihr Ehemann kam zu mir, weil die Kinder von ihm abgeholt werden sollten, damit sie zusammen mit Vera Wollenberger ausreisen konnten. Er hatte aber die Kinder versteckt und wollte von mir wissen, wie er deren Ausreise mit Vera Wollenberger verhindern könne. Erst von mir erfuhr er die rechtliche Möglichkeit, als Vater der Kinder über deren Aufenthaltsort mitzuentscheiden. Vera Wollenberger hätte ihn erst verklagen und durch Urteil erreichen müssen, daß sie allein den Aufenthaltsort der Kinder bestimmen könne. Uns beiden war klar, daß damit so viel Zeit gewonnen worden wäre, daß inzwischen eine Entlassung von Vera Wollenberger in die DDR stattgefunden hätte. So zog ich dann mit Herrn Wollenberger zu seiner Ehefrau in die Untersuchungshaftanstalt. Hier gab es zwischen den Eheleuten einen riesigen Krach, weil sie an eine Entlassung in die DDR nicht glaubte und von ihm die Zustimmung zur Ausreise der Kinder verlangte, um so schnell wie möglich die Untersuchungshaftanstalt in Richtung Großbritannien verlassen zu können. Das ist die Wahrheit.

Nach längeren Verhandlungen ist dann ein Kompromiß ausgehandelt worden. Ich habe zwischen den Eheleuten einen handschriftlichen Vertrag aufgesetzt, wonach er die folgenden 6 Wochen lang den Aufenthaltsort der Kinder bestimmen konnte und sie danach für 1 Jahr dazu berechtigt sein sollte. Die Überlegung, die dahinter stand, ist offenkundig: Wäre sie in den folgenden 6 Wochen nicht entlassen worden, dann war er damit einverstanden, daß sie zusammen mit den Kindern für 1 Jahr nach Großbritannien ausreist. Mein Beitrag war eindeutig, entgegen der Zielstellung der Partei- und Staatsführung dafür zu sorgen, daß Vera Wollenberger nicht ausreist. Sie blieb auch als einzige länger in Untersuchungshaft als alle anderen, die zum damaligen Zeitpunkt im Zusammenhang mit der Liebknecht/Luxemburg-Demonstration inhaftiert worden waren.

Nach dem Besuch in der Haftanstalt habe ich mich noch mit Knud Wollenberger unterhalten. Möglicherweise habe ich dabei aus heutiger Sicht einen Fehler begangen. Aber ich bin durchaus bereit, zu diesem Fehler zu stehen. Der Streit zwischen den beiden Eheleuten war ziemlich unerträglich, und ich habe ihn auf den Umstand hingewiesen, daß es bei sich liebenden Eheleuten eigentlich umgekehrt sein müßte: Er müßte darauf dringen, daß sie alles unterschreibt, um sofort die Haftanstalt verlassen zu können, während sie ihm erklären müßte, daß sie dies noch länger aushalte, um ihr politisches Ziel zu erreichen, in die DDR entlassen zu werden. Ich habe ihm gesagt, daß zwischen ihnen ein Problem bleiben wird, daß ihm nämlich seine politische Zielstellung wichtiger war als die Entlassung seiner Frau aus der Untersuchungshaftanstalt. Dies war nichts weiter als eine menschliche Überlegung, die ich angestellt und ihm mitgeteilt habe. Selbstverständlich wußte ich damals nicht, daß er Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit war, und ich weiß auch heute nicht, wie sich sein Kontakt zu dieser Einrichtung zum damaligen Zeitpunkt gestaltete.

Tatsache ist aber, daß es an diesem berühmten Sonnabend diese schriftliche Vereinbarung gab, die von beiden Eheleuten und mir unterzeichnet worden war. Daraus hätte es gar kein Entrinnen gegeben. Nur hat sich Herr Wollenberger, durch wen und was auch immer, die Sache am darauffolgenden Tag anders überlegt und mir am Montag morgen von sich aus mitgeteilt, daß er nunmehr doch damit einverstanden sei, daß seine Frau zusammen mit den Kindern die DDR für ein Jahr verläßt. Ich hatte mich an diesem Montag noch einmal bei der Generalstaatsanwaltschaft erkundigt, ob eine Entlassung in die DDR in Frage käme. Der zuständige Staatsanwalt hat mir gegenüber dies ausdrücklich verneint. Es gab keinen Hinweis darauf, daß die Entlassung in die DDR schon vorbereitet oder beschlossen war. Und ich habe ihr bei dem Gespräch am Montag morgen wahrheitsgemäß diese Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft übermittelt. Ich konnte ihr doch unmöglich etwas anderes sagen, als mir der zuständige Staatsanwalt selbst mitgeteilt hatte. Im übrigen bin ich noch heute davon überzeugt, daß die von ihr angegebene Entlassungsverfügung vom Sonnabend für den Montag (angeblich für eine Entlassung in die DDR) nachträglich geschrieben und datiert worden ist. Denn eigentlich bestand ja das Ziel darin, daß sie bereits am Freitag – wie Bärbel Bohley – die Untersuchungshaftanstalt in Richtung Großbritannien verläßt. In diesem Falle hätte es eben eine Verfügung vom Donnerstag für den Freitag gegeben. Und spätestens sollte sie dann an diesem Sonnabend entlassen werden, was auch nicht geschehen ist. In diesem Falle hätte es dann eben eine Verfügung vom Freitag für den Sonnabend gegeben.

Auf jeden Fall steht fest, daß ihre Ausreise gerade durch meine Mitwirkung verzögert wurde, und sie hätte noch weiter verzögert werden können, wenn wenigstens einer von den beiden Eheleuten dies gewollt und durchgehalten hätte. Es ist schon ein starkes Stück, diese Realitäten heute in ihr Gegenteil zu verkehren. Denn immerhin führte mein Eingreifen dazu, daß der stellvertretende Generalstaatsanwalt der DDR in einer Dienstbesprechung mit den Abteilungsleitern der Generalstaatsanwaltschaft darauf hinwies, daß mir höchstwahrscheinlich die anwaltliche Zulassung entzogen werden würde, weil ich die Durchsetzung eines Politbüro-Beschlusses ernsthaft behindert hätte. Dieser Beschluß soll vorgesehen haben, daß alle im Zusammenhang mit der Liebknecht/Luxemburg- Demonstration Inhaftierten spätestens am Freitag entlassen werden sollten, allerdings nicht in die DDR. (Es war im übrigen auch der Freitag, an dem versucht wurde, bei Knud Wollenberger die Kinder abzuholen, was aus den dargelegten Gründen nicht gelang.)

Falsch stellt Vera Wollenberger auch meine Rolle im Zusammenhang mit unserem Gespräch zu ihrem Arbeitsrechtsverhältnis (Kündigung) und zur Situation ihres Sohnes dar. Denn auch sie kann nicht bestreiten, daß ich mich sehr dafür engagiert habe, daß ihrem Sohn wieder die Möglichkeit gegeben wird, das Abitur zu machen. Und auch hier gilt wieder das oben Dargestellte: Ihr Haß richtet sich nicht gegen jene, die dafür sorgten, daß ihr Sohn von der Schule relegiert wurde. Nein, ihr Haß richtet sich gegen mich, also gegen denjenigen, der immerhin noch versucht hat, diese Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen und dafür zu sorgen, daß ihr Sohn eben doch sein Abitur machen konnte.

Nun wirft sie mir vor, daß ich ihr in diesem Zusammenhang von irgendwelchen Aktionen abgeraten habe. Sie vergißt nur zu erwähnen, daß es in dieser Situation gerade ein Umdenken und eine Chance gab, die Genehmigung für ihren Sohn zu erwirken, das Abitur zu machen. Und natürlich mußte ich ihr einen solchen Ratschlag geben, denn mir war klar, daß öffentliche Aktionen die Partei- und Staatsführung unter Druck setzen würden, bei der diese die Angst gehabt hätte, ihr Gesicht dergestalt zu verlieren, daß sie nur auf öffentlichen Druck reagieren würde. Hier wird wieder die Kompliziertheit und die Gratwanderung deutlich, vor der ein Anwalt in einer solchen Situation stand: Mein Auftrag bestand nicht darin, politische Spektakel zu organisieren, sondern dafür zu sorgen, daß der Sohn von Frau Wollenberger eine Chance bekam, sein Abitur nachzuholen.

In meinem Anwaltsleben gab es auch andere Situationen, in denen mir klar war, daß nur durch ein öffentliches Spektakel überhaupt erreicht werden konnte, daß ein Umdenken der Partei- und Staatsführung begann. In solchen Situationen habe ich auch andere Ratschläge gegeben. Und dennoch bin ich entsetzt, wie diese Dinge heute, unabhängig von Zeit und Raum und den realen Gegebenheiten in der DDR bewertet werden.

Lutz Rathenow hat offensichtlich nicht an der Pressekonferenz am 28. 10. 94 teilgenommen. Aber auch er tritt in letzter Zeit häufiger gegen mich als Ankläger auf. Bei ihm gibt es eine besondere Merkwürdigkeit: Er hat bereits vor Öffnung der Stasi-Akten Ende 1991 in einem Zeitungsinterview erklärt, daß er davon überzeugt ist, daß er mich nach Einsicht in seine Stasi- Akte als Inoffiziellen Mitarbeiter entlarven kann. Als er dann seine Akte einsah, fand er nicht den geringsten Hinweis, der auch nur einen Bezug zu mir gehabt hätte. Und nun ist er froh, daß ein Treffbericht mit einem „GMS Notar“ gefunden wurde, in dem wenigstens sein Name steht.

Seitdem ist er nun fast täglich als einer meiner Ankläger zu erleben. Für mich bleibt aber die Frage, weshalb er diesen Wunsch schon 1991 hatte. Eine Erklärung kann ich nur darin sehen, daß ihm meine politische Rolle in dieser Gesellschaft zutiefst mißfällt und er daher geradezu gierig darauf war, mich zu „entlarven“. Wenn ein solcher Wunsch so hartnäckig verfolgt wird, dann ergibt sich auch die Gelegenheit.

Noch stärker verwundert mich das Auftreten von Freya Klier und Jürgen Fuchs. Beide waren nie meine Mandanten, und Jürgen Fuchs bin ich nicht einmal in meinem Leben begegnet. Deshalb gibt es für ihr Verhalten meines Erachtens nur eine Erklärung: Es ist für sie eine Gelegenheit, sich selbst wieder öffentlichkeitswirksam ins Spiel zu bringen.

10.

Wenn ich die ganze Angelegenheit einmal politisch betrachte, dann bin ich eigentlich entsetzt darüber, in welchem Maße sich die Vertreterinnen und Vertreter des „Neuen Forums“ – um dessen Zulassung ich im Auftrag von Bärbel Bohley gegenüber dem Innenministerium der DDR zu einer Zeit gestritten habe, in der es noch als staatsfeindlich eingestuft worden war – und durch die Mitwirkung von Gerd Poppe, Vera Wollenberger und Werner Schulz auch das Bündnis 90 ins politische Aus manövrieren. Denn anhand dieser Kampagne wird ganz deutlich, daß es ihnen weder um eine Gestaltung noch um eine Veränderung der Bundesrepublik Deutschland geht. Sie jagen mich als einzelne Person, wollen mich aus der Politik ausschalten und außerdem noch dafür sorgen, daß mir die nach den Gesetzen zustehenden rechtlichen Möglichkeiten beschnitten werden. Das aber ist Ausdruck ihrer eigenen Politikunfähigkeit.

Entgegen ihren Annahmen bin ich nicht dafür verantwortlich, daß das „Neue Forum“ politisch heute keine Rolle mehr spielt, und auch nicht dafür, daß das Bündnis 90 in den neuen Bundesländern so schlecht bei Wahlen abschneidet. Das „Neue Forum“ war eine Massenbewegung, und es hätte eine dauerhafte Bewegung daraus werden können. Voraussetzung dafür wäre allerdings gewesen, sich auch mit der Gegenwart und Zukunft zu beschäftigen und nicht ausschließlich mit der Verfolgung einzelner Personen, ob nun zu Recht oder zu Unrecht. Bereits Anfang 1992 habe ich darauf hingewiesen, daß bei dieser Art Umgang mit der Vergangenheit die Gefahr besteht, daß alle genannten Personen auch in den Medien nur noch bei einem einzigen Thema eine Rolle spielen. Bärbel Bohley könnte ja einmal versuchen, einen Vorschlag zur Verbesserung der Mietenpolitik einzubringen, sie wird feststellen, daß nicht eine einzige Zeitung, nicht eine einzige Rundfunk- und Fernsehstation davon auch nur Notiz nimmt.

Sie hat selbst zu vertreten, daß sie nur noch für ein einziges Thema benutzt wird. Und es wird den anderen nicht wesentlich anders gehen. Das aber macht mich keineswegs glücklich, sondern eher traurig, denn eigentlich wünsche ich mir, daß außerparlamentarische Bewegungen und auch solche Organisationen wie das Bündnis 90 politikfähig sind und eine beachtliche Rolle spielen können bei der Veränderung und Gestaltung unserer Gesellschaft.

Im übrigen sollte Bärbel Bohley auch nicht vergessen, daß sie noch im August 1990 mit mir auf eine Personenliste zur Bundestagswahl für den Fall gehen wollte, daß die PDS auf eine Kandidatur verzichtet. Damals muß sie die Ergebnisse meiner anwaltlichen Tätigkeit noch anders bewertet haben.

11.

Meinen Anklägerinnen und Anklägern sind natürlich die Gesetze der Medien bekannt, und deshalb wissen sie, daß sie jetzt ein Thema gefunden haben, das leidenschaftlich gern in den Medien behandelt wird. Deshalb stehen sie unter einem ungeheuren Zwang. Sie müssen nämlich fast jeden Tag etwas Neues verkünden oder wenigstens etwas Altes als Neues anbieten. So geht dann zum Beispiel einen Tag lang durch die Medien, daß Gerd Poppe neue Unterlagen über mich gefunden hätte, und erst am nächsten Tag wird eingeräumt, daß diese bereits seit zweieinhalb Jahren öffentlich bekannt sind.

Ich stelle auch fest, daß sie wild entschlossen sind, mich von einem Prozeß in den nächsten zu jagen. Gleich einer Kettenreaktion haben sie sich vorgenommen, den Tatbestand der üblen Nachrede gegen mich zu erfüllen. Und jedes Mal soll ich gegen das betreffende Medium und gegen sie persönlich vorgehen. Allein dadurch wäre ich zeitlich in einem Maße gebunden, daß ich zu normaler politischer Tätigkeit überhaupt nicht mehr käme. Ich will gar nicht bestreiten, daß es ihnen dadurch gelingt, ein gewisses Dilemma für mich zu organisieren. Gehe ich gegen ihre Behauptungen rechtlich nicht vor, so wird dies als Eingeständnis gewertet werden. Lasse ich mich aber auf ihr Konzept ein, dann kann ich mich auch gleich aus der Politik verabschieden und erwecke zudem den Eindruck, als Anwalt meine ehemaligen Mandanten zu „verfolgen“. Ich weiß nicht, ob es einen Königsweg für mich gibt. Aber ich will wenigstens darüber nachdenken, welcher noch der erträglichste sein könnte. Weder werde ich mir alles bieten lassen, noch werde ich mich zu einem Prozeß-Fetischisten entwickeln. Ich weiß auch, daß die Absicht besteht, mit großem Medien-Spektakel zu begleiten, wenn gegen die eine oder den anderen eine Geldstrafe vollstreckt werden würde. Es ist schwer, gegen eine Front Entschlossener zu bestehen, die mich laut dem Journalisten Roland Jahn gegenüber dem Pressesprecher der PDS, Hanno Harnisch, „bis zum Abgrund jagen“ wollen.

Das ist um so komplizierter, als die Jägerinnen und Jäger sich immer darauf verlassen können, im wesentlichen ein positives Presseecho zu finden und Unterstützung durch die offizielle Politik zu erhalten. Dennoch gibt es auch für mich einen Trost. Denn ich hatte wesentlich mehr Mandantinnen und Mandanten als sich gegenwärtig hervortun. Die große Mehrzahl von ihnen richtet keine Anwürfe gegen mich. Darunter solche, die wirklich für lange Zeit in Strafvollzugseinrichtungen der DDR einsitzen mußten, oft aus nichtigen oder ungerechtfertigten Anlässen. Sie können offensichtlich auch noch im nachhinein schätzen, wenn ich versucht habe, diese Zeit abzukürzen, und werfen mir dies heute nicht vor, weil sie dadurch nicht „ausreichend“ Märtyrer geworden sind. Dazu zähle ich zum Beispiel Rudolf Bahro, Thomas Klein, Jutta Braband und andere.

Ich habe einen politischen Auftrag durch meine Wählerinnen und Wähler und durch die Mitglieder meiner Partei. Ich habe Freundinnen und Freunde. Und über noch eines bin ich froh: Die oben Genannten hassen, ich nicht.

Selbst wenn es ihnen eines Tages gelingen sollte, mich aus der Politik auszuschalten, wenn ich irgendwann so entnervt bin, daß ich keine Kraft und keine Lust mehr habe, die Auseinandersetzungen fortzusetzen, dann können sie mir dennoch nicht nehmen, was ich als Anwalt in der DDR versucht und in der Politik zumindest seit dem Herbst 1989 bewirkt habe. Und es tut mir leid (nicht wirklich), gerade letzteres kann sich mit dem, was meine Jägerinnen und Jäger in dieser Zeit bewirkt haben, durchaus messen lassen.

Berlin, 31. 10. 94

Gregor Gysi