: Mauerfall führte zu „Depression“
Der ehemalige Stasi-Chef Erich Mielke wird nicht mehr wegen der Todesschüsse an der Mauer zur Verantwortung gezogen / Sachverständiger bescheinigte ihm Verhandlungsunfähigkeit ■ Von Julia Albrecht
Berlin (taz) – Das letzte große Verfahren gegen Erich Mielke ist vorbei. Das Gericht folgte mit seiner gestrigen Entscheidung den Ausführungen des Sachverständigen Edward Meyer: Erich Mielke, 87, ehemaliger Chef der Staatssicherheit der DDR, ist verhandlungsunfähig. Meyer hatte in seinem umfangreichen Gutachten die Frage zu beantworten versucht, ob Mielke nur ein perfekter Simulant sei oder aber ein Mann, der wirklich nicht mehr in der Lage ist, seine eigenen Interessen in einem umfangreichen Verfahren wahrzunehmen. Diese Frage begleitete den Prozeß von Anfang an. Mehrmals hatten Mielkes Anwälte Gerd Graubner, Gerhard Jungfer und Stefan König betont, sie sähen sich nicht in der Lage, die Hauptverhandlung so zu führen, wie es ihre Pflicht sei. „Es ist das erste Mal“, sagte Jungfer „daß ich eine Anklageschrift nicht mit meinem Mandanten besprochen habe.“ Die Staatsanwaltschaft hatte Mielke vorgeworfen, sich in sechs Fällen an der Berliner Mauer oder im Todesstreifen zwischen der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik des gemeinschaftlichen Totschlags schuldig gemacht zu haben.
Während des kurzen Verfahrens öffnete Mielke nur wenige Male den Mund. Auf Befragen des Vorsitzenden Richters Hans Georg Bräutigam gab er einmal sein Geburtsdatum an. Auf die weitere Frage, ob er sich darüber im klaren sei, daß er zur Zeit in Untersuchungshaft sitze, zuckte Mielke nur die Achseln. Nachdem die Anklageschrift verlesen worden war, sagte er: „Ich will mich nicht äußern, ich will mich zu nichts äußern.“ Wenige Momente einer verhaltenen Lebhaftigkeit gab es stets zu Beginn der Termine, wenn Mielke bekannte Gesichter im Zuschauerraum mit einem leisen Lächeln begrüßte. Ansonsten saß er fast bewegungslos neben dem ihm vertrautesten Anwalt, König – gerade, aufrecht, den Stock zwischen den Beinen.
„Mielke verfügt nach wie vor über eine perfekt funktionierende Fassade“, hatte Meyer bekundet, der den Angeklagten von Januar bis März in insgesamt 15 Gesprächen untersucht hatte. Die Gespräche seien „mühsam“ gewesen. Er habe den Eindruck gehabt, daß Mielke zwar mit ihm reden wolle, ein wirkliches Gespräch allerdings sei nicht möglich gewesen. Zwar funktioniere Mielke in Alltagsdingen nach wie vor tadellos. Aber sein Interesse habe sich auf seine Gesundheit reduziert und auf die kleinen Dinge des täglichen Lebens. So habe er sich über Wochen vehement über den Verlust einer Zitronenpresse beschwert. Der Fall der Mauer sei für Erich Mielke ein Schock gewesen, den er bis heute nicht verarbeitet habe und der medizinisch als eine „reaktive Depression“ zu fassen sei. Diese sei mittlerweile als ein „Nichtkönnen“ zu charakterisieren.
Fast die Hälfte des Verfahrens schleppte sich mit zurückgewiesenen Befangenheitsgesuchen gegen den Vorsitzenden Richter Hans Georg Bräutigam dahin. Schon am ersten Prozeßtag hielten die Anwälte den Richter für befangen, weil er entgegen allen Gepflogenheiten ohne Voranmeldung und ohne die Anwälte zuvor zu informieren, den Angeklagten in dessen Zelle aufgesucht hatte. Zum Wohle Mielkes, wie der Richter meinte. Er habe sich einen Eindruck von dessen Befinden machen wollen. Schon bei dieser Gelegenheit hätte Bräutigam sich von der eingeschränkten Verhandlungsfähigkeit Mielkes vergewissern können. Der hatte nämlich gar nicht mitbekommen, wer ihn da besuchte. Als sein Anwalt später mit ihm über den Vorgang sprechen wollte, sagte Mielke: „Das war Bräutigam? Der sah ganz anders aus als bei der Anhörung in seiner schwarzen Robe.“
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