Der Minister darf im Amt bleiben

■ Atombombenopfer bekommen keine Entschädigung, der populärste japanische Politiker leugnet, daß Japan einen Angriffskrieg geführt hat: Gerät die Vergangenheitsbewältigung in Japan schon wieder außer Kurs?

Der Minister darf im Amt bleiben

Die Zeitungen des Landes waren sich einig: „Das neue Gesetz für die Atombombenopfer rettet die Regierungskoalition“, titelten gleich mehrere Blätter. Tokio ging zur Tagesordnung über. Nur tausend Kilometer südwestlich, im Stadtpark von Nagasaki, protestierten gestern noch die Unermüdlichen. Es waren vorwiegend alte Leute, unter ihnen einige Überlebende des Atombombenabwurfs, denen die Botschaft aus der Hauptstadt nicht entgangen war: Das moderne Japan hatte sich gerade per Gesetz für geschichtslos erklärt.

Großzügig hatte der sozialdemokratische Premierminister Tomiichi Murayama in Tokio seine Abbitte vor der Vergangenheit verkündet: Umgerechnet rund 1.500 Mark erhalten demnächst alle japanischen Atombombenopfer aus der Staatskasse, als späte Abgeltung für ein besonderes Leid. Dafür will die Regierung noch in diesem Monat ein neues Gesetz verabschieden. Doch als dann die Fernsehkameras vielleicht das letzte Mal vor die Krankenbetten der Opfer fuhren und die vom langsamen Atomtod gezeichneten Gesichter noch einmal der Nation zeigten, erklang nur der in Japan wohlbekannte Seufzer: „Wir wollten eigentlich nur die Staatsentschädigung“, sagte eine alte Dame. Damit nannte sie das nicht vergessene Ziel der Atombombenopfer-Bewegung: jegliche Form der Staatsentschädigung hätte nämlich das implizite Geständnis der Regierenden dargestellt, daß Japan für die Atomkatastrophen von Hiroshima und Nagasaki mitverantwortlich war. Entschädigung zahlt schließlich nur, wer selbst Schaden zugefügt hat – doch gerade das wollte Tokio auch diesmal nicht. Im neuen Gesetzentwurf heißt es nun lediglich, den Atombombenopfern werde „unter Verantwortung der Regierung“ ein „Unterstützungsgeld“ gezahlt.

Die seit dem Sommer gemeinsam mit den Liberaldemokraten regierenden Sozialdemokraten verrieten damit die jahrzehntelang aufrechterhaltenen Positionen ihrer Politik. In der Opposition waren sie neben den Kommunisten lange Zeit die einzige Partei, die zu einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit der japanischen Vergangenheit bereit waren. Nun beugen sie sich dem banalen konservativen Nachkriegsdogma, daß Japan für den Zweiten Weltkrieg keine besondere Schuld trage. Nur aufgrund dieser Sichtweise hatten sich die Liberaldemokraten in den letzten Tagen und den letzten 40 Jahren gegen den Terminus „staatliche Entschädigung“ für die Atombombenopfer gewehrt.

Für Japans Revisionisten aber verkörpert diese Niederlage der japanischen Sozialdemokratie einen in diesem Jahr kaum mehr erwarteten Sieg. Nur wenige Monate vor Beginn des 50. Jubiläumsjahres von Hiroshima, Nagasaki und der japanischen Kapitulation haben sich die wieder durchgesetzt, denen der Tokioter Premierminister noch vor einem Jahr eine klare historische Lektion erteilt hatte: Japan sei verantwortlich für „Kolonialherrschaft und Aggressionskrieg“ in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, hatte der im August 1993 frischgewählte Premier Morihiro Hosokawa bei seiner ersten Pressekonferenz der Welt verkündet. Damals glaubte man auch im Westen an die Läuterung des demokratischen Japan. Hatte es nicht auch in Deutschland bis zum ersten Regierungswechsel unter Willy Brandt gebraucht, bevor man offener über die Kriegsvergangenheit zu sprechen begann? Vor einem Jahr versprach der erste demokratische Regierungswechsel in Japan die gleiche Öffnung.

Deutlicher Bruch mit Hosokawas Neubeginn

Doch auf die auch in Japan akklamierten Bekenntnisse Hosokawas folgten alsbald die ersten Gegenangriffe. Im April – Hosokawa hatte die Regierung bereits wieder verlassen – leugnete der amtierende Justizminister Shigeto Nagano das Massaker japanischer Truppen in Nanking 1937. Damals hatten die kaiserlichen Truppen Tausende chinesischer Zivilisten in einer Massenschlachterei getötet. Immerhin, Nagano mußte im April sein Amt abgeben. Ähnlich erging es Umweltminister Shin Sakurai, der noch im August behauptete, die japanische Besatzung im Zweiten Weltkrieg habe die asiatischen Länder zu „Unabhängigkeit, Demokratie und Alphabetisierung“ geführt.

Nagano und Sakurai waren freilich Außenseiter, ihr Opfer kostete die in der Zwischenzeit wechselnden Regierungen nicht viel. Ganz anders aber verhielt es sich beim Auftritt von Wirtschaftsminister Ryutaro Hashimoto vergangene Woche im japanischen Parlament: „Zieht man die sowjetischen Angriffe gegen Kriegsende und andere Vorfälle in Betracht, bin ich nicht bereit zu sagen, daß Japan im Zweiten Weltkrieg einen Angriffskrieg geführt hat“, erläuterte dort der Minister, den Umfragen zufolge 60 Prozent der Japaner gerne als Regierungschef hätten. In Hashimotos Weltsicht habe Japan damals gar nicht gegen die asiatischen Nachbarländer kämpfen wollen, sondern gegen „die Vereinigten Staaten, England und die anderen“. Die Millionen Opfer, die die japanischen Truppen in China, Vietnam, auf den Philippinen und in Südostasien hinterließen, ließ Hashimoto unerwähnt. Doch noch erstaunlicher: niemand in Japan empörte sich darüber. Auch die Protestnoten aus Südkorea und China halfen nichts: Diesmal durfte der Minister im Amt bleiben. Regierungssprecher Kozo Igarashi, ein gestandener Sozialdemokrat, beteuerte sogar ausdrücklich, daß sich Hashimotos Worte im Rahmen der Regierungsauffassung bewegten. Deutlicher konnte der Bruch mit Hosokawas Neubeginn an höchster Stelle kaum vollzogen werden.

Wie weit sich die Aufklärung über die Kriegszeit bislang in Japan durchsetzte, läßt sich am besten an den Plänen für das derzeit im Umbau befindliche Atombombenmuseum in Nagasaki feststellen. Dort sind zur Zeit lediglich ein Videokasten und zwei Stellwände zur Erklärung der Kriegsereignisse vor dem Atombombenabwurf vorgesehen. Die über 20.000 koreanischen Atombombenopfer von Nagasaki, die im alten Museum gar nicht erwähnt wurden, sollen in Zukunft auf einem Video mit der Stimme eines Betroffenen zu Wort kommen. Nagasakis Bürgermeister Hitoshi Motoshima will gegen diese Pläne nun Protest einlegen. Die neokonservative Opposition im Parlament will ihn unterstützen.