Engel im Breitwandformat

■ Mitreißend, bewegend, rasant: Das AIDS–Drama „Engel in Amerika“ im Theater

Die Jugendgang des Bremer Theaters hat einen richtigen Coup gelandet. Aus einem Stück mit düsteren Anklängen gelang es der ostdeutschen Regisseurin Christina Friedrich und ihrer Ost-West-Besetzung über weite Strecken einen Abend voll explodierender Vitalität zu zünden.

„Engel in Amerika“, als Zweiteiler zwischen Familiensaga und Fortsetzungsroman angelegt, berichtet von AIDS in der Reagan-Ära und erhebt die Krankheit zum Gesellschaftssymptom. Für Autor Tony Kushner eine reine Männerwelt, in der alle, egal ob Wallstreetanwalt oder Punktunte, nacheinander geilen. Die andere Hälfte der Menschheit wird da flott auf eine einzige Figur reduziert, die sich dann auch noch mit Halluzinationen aus der Valiumbüchse aus der Wirklichkeit beamt. Wer nach einem realistischen Einblick in das Amerika der 80er sucht – hier wird er nicht fündig.

Stattdessen lernen wir in nur drei Handlungssträngen die gesamte Personage des Abends kennen: den Aidskranken Prior, der von seinem Freund Louis verlassen wird; die drogensüchtige Harper und ihren Mann Joe, der seinem Coming-Out entgegentaumelt; schließlich Roy, der Macho im Zweireiher, dem Schwulsein einen Imageverlust bedeutet und der deshalb Joe mit nach Washington nehmen will.

Nur kurz müssen wir am amerikanischen Alltag teilnehmen: Telefonverhandlungen auf mehreren Leitungen, Halluzinationen in der Vorstadt, Mittagspause mit Hotdog im Schatten der Hochhäuser. Durch ein Mosaik aus anderer Leute Alltag kommt das Stück in Fahrt. Die Fragmente sind so kurzweilig anzuschauen wie Werbeclips. Die Gefahr: Über weite Strecken werden die Geschichten zu weit ausgetreten und der Mangel an differenzierten Personen rächt sich. Die Beschränkung aufs schwule Umfeld hat Folgen, zu all den Männern gibt es nicht eine starke Frau (,,Hillary, wo bist du!“) und auch der Alibi-Schwarze verkommt zum Sarottimohr.

Die Engel aber sind voll im Trend. Tony Kushners Aids-Epos mit dem Untertitel: „Die Jahrtausendwende naht“ greift nach den Sternen. Und es gelingt durchaus, der einen oder anderen Sternschnuppe habhaft zu werden. Effektvoll greift die Regie die Broadwaytradition auf und zeigt in dieser Riesenproduktion, was im Zeitalter der Visualisierung großformatiges Theater bedeuten kann: Film auf der Bühne, Shortcuts live. Auf jeden Fall aber eine schnelle Bühne mit intelligenten Lösungen für Theater im Breitwandformat (Angelika Winter). Zügig, und schon von der Bewegungsrichtung an den Film erinnernd, surren auf Bahnschienen die Möbel quer über die Bühne. Lichtwechsel: die Miniszene steht, ein paar Atemzüge lang. Im Hintergrund scheint Robert Wilson den Taktstock zu heben. Seine Erfindung des Bildertheaters, das sich in aller Konsequenz nicht um Sinn und Handlung, sondern nur um visuelle Assoziationen kümmert, dirigiert den Rhythmus der Maschine Theater auch in Bremen.

Zu pulsieren beginnt das Blut dieser Inszenierung mit der Besetzung. Herausragend Pierre Besson. Der junge Schauspieler, frisch von der Ernst-Busch Schule in Ostberlin, liefert hier als schwuler Prior sein Meisterstück ab. Überzeugender Höhepunkt dieser mutigen Inszenierung ist seine Mick-Jagger-Nummer. Wie er erst halb kokett und bald mit geradezu bekennender Leidenschaft all die runtergeschluckte Frustration in „I can't get no ...“ packt, das läßt keinen kalt. Freund Louis, der mit T-Shirt und Brille einen wunderbaren Woody Allen zustande bringt, rührt er eh. Schließlich leidet er an der nur allzu verständliche Angst, den AIDS-Tod mit ansehen zu müssen. Das Publikum aber, mehrheitlich heterosexuell und in Premierenlaune, kramt nicht nur verschämt nach den Tempos in der Jackentasche.

Da hatte die große Theatergemeinde der Abonnenten erst im letzten Jahrzehnt durch „La Cage aux Follies“ erfahren, daß das Schwulsein keine Krankheit ist, sondern Spaß macht. Und jetzt müssen doch alle umlernen. „Engel in Amerika“, mit der Bremer Inszenierung jetzt flächendeckend in Norddeutschland vertreten, läßt keinen Zweifel daran, das Thema der schwulen Szene ist und bleibt AIDS – auch im Theater.

Susanne Raubold

Nächste Vorstellung: Heute, 5.11., um 19 Uhr im Schauspielhaus des Bremer Theaters