: ,Ob man Kinder so hungern lassen darf?'
■ Frühgeborenen-Expertin Marcovich in Bremen / Bremer ÄrztInnen: manches ist bedenklich
KinderärztInnen, Krankenschwestern, Hebammen, Eltern – fast 800 Menschen wollten am Donnerstag den Vortrag der Wiener Ärztin Marina Marcovich über sanfte Frühgeborenenmedizin hören. Doch nur 350 paßten in den Vortragssaal der Kunsthalle. Am 20. Januar will Marcovich deshalb nochmal nach Bremen kommen. In Österreich ist die sie sehr umstritten – seit Februar ermittelt der Staatsanwalt in sechs Fällen gegen sie.
Und hierzulande? „Aber das machen wir doch schon seit Jahren: Kangarooing zum Beispiel, wo die Eltern die Frühgeborenen auf der Brust tragen“, hielt Klaus Albrecht, Direktor der Frühgeborenenklinik St.Jürgen-Straße der Ärztin entgegen. Da schaute manche Besucherin aber doch verwundert drein.
Eltern sind nicht lästig und Frühgeborene nicht völlig hilflos, so lautet ihr Credo. Eltern haben die stärkste emotionale Bindung und damit Kraft für das Kind; also können sie Tag und Nacht ins „Wiener Markhof'sche Kinderspital“ kommen, ihr Frühchen aus dem Brutkasten nehmen und es sich auf die Brust legen. Stundenlang. Auch die Frühchen können mehr, als lange angenommen, sagt Marcovich: atmen zum Beispiel. Man müsse ihnen nur nach der Geburt ein bißchen mehr Zeit lassen, vor allem aber: sie nicht von der Mutter trennen, das schockt und läßt den Atem stocken. Lieber in warme Windeln packen und drücken, damit es wie im Mutterleib sichere Grenzen um sich spürt. Sie beatmet nur rund 20 Prozent der Frühchen, im Schnitt drei Tage lang. So verhindere man irreversible Schäden der Lunge und des Hirns. In Salzburg dagegen würden 67 Prozent beatmet.
Streitpunkt bei den Frühgeborenen-MedizinerInnen ist nicht nur die Beatmung, sondern auch die Ernährung: Marcovich gibt den Säuglingen nur noch halbsoviel Flüssigkeit wie früher und auch deutlich weniger Nahrung. Zuviel Nährstoffe in der ersten kritischen Phase belasteten den Stoffwechsel, das Kind brauche dann mehr Sauerstoff und damit die künstliche Beatmung. Um festzustellen, ob das Kind Hunger hat, orientiert sie sich weniger an Blutwerten als an anderen „Signalen“: Unruhe, Gesichtsausdruck ... Manches ihrer Frühgeborenen verliert dabei schon mal um die 20 Prozent seines Gewichts, sagt Marcovich. Doch seien sie durch diese erste Instabilitätsphase, gediehen sie prächtig und holten alles Wachstum nach.
Auch in der Pflege unterscheide sich ihre Methode wesentlich vom Alltag anderer Kliniken, sagt Marcovich: Weil die Frühchen noch schwache Bauchmuskeln haben, massieren ihnen die Schwestern zwecks Verdauung den Bauch, und zwar mehrmals täglich. Musikkassetten sorgen für Stimulation – Faule kriegen Rock 'n Roll zu hören, Nervöse Mozart; manche Eltern hängen auch ihr Hochzeitsfoto in den Inkubator – aber darüber lächelt sogar Marcovich; und damit die Kinder auf der geschäftigen Intensivstation auch mal zur Ruhe kommen, werden die Brutkästen abgehängt, die Monitore sind ohnehin auf stumm geschaltet.
„Sowas gibt's bei uns doch auch“, sagt Klaus Albrecht, Leiter der Kinderintensivmedizin St.Jürgen-Straße, gegenüber der taz. „Natürlich sind die Inkubatoren verdunkelt, selbstverständlich die Monitore stumm, und es wird auch nicht jedem Kind jeden Tag Blut abgezapft – um Gottes willen“. Kassetten mit dem Herzschlag der Eltern oder Musik – kein Problem, und die Darmmassage wende eine erfahrene Säuglingsschwester ohnehin an. Und was die geringere Flüssigkeitsgabe betreffe: darüber sei man sich heute allgemein einig. In einem seien Bremens drei Frühgeborenen-Intensivstationen Links der Weser, St.Jürgen und Bremen-Nord sogar Wien voraus: Sie sind unter einem Dach mit den Geburtsstationen, die Mütter haben's also nicht weit. Nun gut, gibt Albrecht zu, das Kangarooing mache man nicht so häufig wie Marcovich, schließlich sei nicht jedes Kind so stabil.
Manches gut, aber nicht alles so neu, so lautet das Resümee des Chefarztes. Richtig Bauchschmerzen kriegt er allerdings, wenn er sich die Ernährungsmethode der Marcovich anschaut: „Man muß sich durchaus fragen, ob man die Kinder so hungern lassen darf. Schließlich braucht das Gehirn die meiste Energie. Wenn wir das hier in Bremen einfach so aus dem Gefühl heraus ausprobierten, ohne eine wissenschaftliche Untersuchung mit Vergleichen, dann würde die Ethikkommission einschreiten.“ Richtig verhungert, mit großen Augen und dürren Körper, hätten die Kinder auf Marcovichs Dias ausgesehen.
Oder dieses Bild: Ein Frühgeborenes, soeben am Darm operiert, liegt auf der Brust seiner Mutter. Ohne Schmerzmittel, wie Marcovich stolz sagte. Ein Bauschschnitt macht immer Schmerzen, sagt dagegen Albrecht, er gebe den Kindern schon vor der Operation Schmerzmittel und warte nicht, bis das Kind Schmerzen äußere, das wäre ja geradezu brutal.
Auch der Direktor der Kinderklinik in Bremen Nord, Ulrich Irle, glaubt nicht an „Signale“ von Frühgeborenen, man müsse auf Labordaten zurückgreifen. Ein hungriger Sechspfünder brülle sich heiser, ein 600-Gramm-Kind dämmere einfach weg. Wer aber im ersten Lebensjahr hungere, habe später einen geringeren IQ. „Es reicht nicht, das Kind nur ganz, ganz lieb zu haben.“ Und was die künstliche Beatmung nach der Geburt betrifft: Wenn man nicht wisse, wie lange das Kind schon vor der Geburt Luftmangel hatte, könne man nicht unbedingt fünf Minuten warten mit dem Tubus. „Allerdings soll ich natürlich auch nicht zu kribbelig sein.“ Weniger als die Hälfte der Frühgeborenen legt man in Bremen-Nord nach der Geburt der Mutter auf den Bauch. Und man beatme sicher mehr als 20 Prozent der Unter-1000-Gramm-Kinder. „Vielleicht haben wird da noch ein bißchen Spielraum.“
Chefarzt Irle nimmt die Wiener Ärztin aber auch in Schutz vor ihren KritikerInnen: „Sie wird wahrscheinlich oft überzogen dargestellt. Ihre Anhängerschaft sagt, Technik sei böse, man muß nur lieb sein zu den Kindern. Aber eigentlich sagt Frau Marcovich doch nur: Guckt genauer auf das Kind, bevor ihr Technik anwendet. Da hat sie völlig recht.“ Christine Holch
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