Nicht die gleichen Kriterien anlegen

■ In Albanien wird die besondere Ausprägung des Stalinismus bis 1990 betont

Bashkim Shehu lebt fern der Heimat in Budapest. Seit zwei Jahren hat er Albanien nicht mehr betreten. „Das Klima ist rauh“, sagt der Schriftsteller, „das Land ist gespalten, und ich sitze zwischen den Stühlen.“ Von den verschiedensten politischen Gruppierungen bekam der stille Poet Todesdrohungen. Einige ehemalige politische Gefangene sehen in ihm noch immer einen Bonzen, Altkommunisten bezichtigen ihn des Verrats.

Bashkims Eltern und Verwandte gehörten zur stalinistischen Nomenklatura, bis sein Vater Mehmet als Ministerpräsident 1981 in Ungnade fiel. Der allmächtige Parteichef Enver Hoxha ließ seinen ehemaligen Kampfgefährten umbringen. Ob es ein Konkurrenzverhältnis war oder ideologische Differenzen, die zum Bruch zwischen den Stalin-Anhängern führten, vermag auch Bashkim nicht zu beantworten. Als Kind und Teenager fiel ihm nur auf, daß seine Familie viel besser lebte als das übrige Volk. Mit dem Tod des Vaters war das vorbei. Verwandte wurden ermordet, seine Geschwister und seine Mutter in die Verbannung geschickt. Erst als es im Zuge der Revolutionen in den realsozialistischen Staaten Osteuropas 1990 auch in Albanien zur politischen Wende kam, wurde Bashkim Shehu zusammen mit etwa 120.000 anderen politisch Verfolgten freigelassen. Im kleinen Balkanstaat mit seinen drei Millionen Einwohnern war inzwischen eine Intellektuellenclique um Sali Berisha und Gramoz Pashko an die Macht gekommen, Nomenklaturakinder, die in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen waren. Ihr Glück war jedoch, daß sie Ende der 80er Jahre und nach dem Tode Enver Hoxhas jenen Parteikadern um Hoxha-Nachfolger Ramiz Alia nahestanden, die eine Erneuerung anstrebten und durch ihre familären Beziehungen dazu auch in der Lage waren.

Heute heißt der Herrscher über Albanien weiterhin Sali Berisha. Gramoz Pashko und andere Reformgeister haben längst wieder ihre Posten verloren, an ihre Stelle rückten Verwandte und loyale Mitstreiter des Berisha-Clans. Ramiz Alia und Dutzende weitere Altfunktionäre landeten hinter Gittern – aber auch kritische Journalisten und Regimekritiker. Bizarres Albanien: Die zu Sozialisten mutierten Kommunisten bilden nun mit einem Teil der einst politisch Verfolgten eine gemeinsame Front gegen das neue Regime; in einer paradoxen Allianz fordern Ex-Stalinisten und Ex-Häftlinge ein Ende der Berisha-Amtszeit. Sie werfen dem ersten demokratisch gewählten Präsidenten Albaniens Korruption und Vetternwirtschaft vor.

Der bedrohte Schriftsteller Shehu kritisiert, daß Berisha mit den Prozessen gegen die früheren KP-Funktionäre keine Vergangenheitsbewältigung betreibt, sondern unliebsame Rivalen loswerden möchte. Denn auch in Albanien sind die sozialistischen Wendehälse wieder im Kommen. Eine Aufarbeitung der Geschichte nur über Prozesse will Shesu freilich ebensowenig wie Piro Misha, der Vorsitzende der oppositionellen Bürgerbewegung „Offene Gesellschaft“. Dieser erklärt, warum: Bis zur Wende hätte in Albanien ein Stalinismus geherrscht, wie ihn Osteuropa nur in den ersten Nachkriegsjahren erlebt hätte. Daher könne man nicht die gleichen Kriterien anlegen. Für Misha und Shehu würde eine Abrechnung mit den Exkommunisten zu einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft führen. Auf welcher Seite sie dabei landen würden, ist angesichts der „albanischen Verhältnisse“ unklar. Karl Gersuny, Wien