■ Schöner leben
: Alles drauf, Papi?

Es ist zurückhaltend aufdringlich, jenes Geräusch, das die Menschen der westlichen Hemisphäre neuerdings fast überall begleitet. Es ist nicht laut, es ist einfach nervig. Und wie gesagt, allgegenwärtig. Ob du am Strand liegst, ob du flanierst oder deinem Tagewerk nachgehst, immer mußt du damit rechnen, daß das Surren dich umgibt. Der Camcorder bürstet auch die letzten Nischen unbeobachteten Tuns aus, das heimliche Auge mit dem unheimlich leisen Sound verfolgt dich wie der Dreifaltige aus dem Kommunionsunterricht.

Ja, das waren noch Zeiten damals. Da wußte die ganze Familie inklusive Neffen des dritten Ranges, wann sie bildlich festgehalten wurden. Das Aufstellritual dauerte Stunden, bis es endlich Papis Hierarchiesehnsüchte zufriedenstellte. Und Filme waren ja auch teuer, sodaß nur zu besonderen Gelegenheiten photographiert wurde. Später dann wurde alles in Alben konserviert, Erinnerungen durften unvollständig und in Fotoecken eckig bleiben.

Heute ist das anders. Als wäre alles auf dieser Welt der wiederholten Anschauung würdig, wird gefilmt, was Vati sieht: Baby beim Pinkeln, Baby beim Nasebohren, Baby beim Krabbeln, Mutti beim Essen, die Tante beim Schlafen, der Nachbar beim Grillen, das Auto im Stehen. Und das alles, über Jahre hinweg gesammelt, ergibt eine Familiothek, die die Einbauwohnzimmerregale schier aus den Verleimungen reißt. Mit einem allerdings beachtlichen Ergebnis: Man kann nüchtern festhalten, daß hier eine übersichtliche Menschenpopulation filmisch von der Wiege bis zur Bahre begleitet wurde. Gäbe es ein Leben nach dem Tod, auch dies wäre vor Vatis Auslöser nicht sicher.

Wenn, muß man sich da fragen, so viel gehäuftes Leben vor der Kamera liegt, gibt es überhaupt noch Leben hinter selbiger? Eine gemeine Frage, ich weiß. Immerhin ist es das Leben von Vati, und den hält keiner fest. Dora Hartmann