„In Japan sucht man immer den Konsens“

■ Ein japanischer Professor erforscht Bremens Stadtteildemokratie / Merkwürdig: Beschlüsse per Parteien-Mehrheit

Yoshihiko Nawata ist Professor für Rechtsphilosophie an der städtischen Universität Tokyo und erforscht seit 15 Monaten das Bürgerbeteiligungssystem in den Bremer Stadtteilen. Dafür hat der 39jährige japanische Hochschullehrer in den vergangenen Monaten an dutzenden Sitzungen und Gremienterminen der Beiräte Mitte, Östliche Vorstadt, Neustadt und Woltmershausen teilgenommen. Am Freitag, 18.11., berichtet Nawata von den Ergebnissen seiner Untersuchung auf Einladung der Japanisch-Deutschen Kulturinitiative in einer öffentlichen Veranstaltung um 19.30 Uhr im Großen Hörsaal der Hochschule Bremen, Werderstr. 73.

taz: Gibt es in Bremen auf Stadtteilebene wirklich Bürgerbeteiligung, oder sind die Beiräte nicht eher eine Spielwiese für Leute, die gerne mal Politiker werden wollen?

Yoshihiko Nawata: Doch, es gibt wirklich Bürgerbeteiligung in Bremen. Und zwar gerade weil die Beiratsmitglieder ehrenamtlich ihre Tätigkeit ausführen. Ich weiß noch nicht, ob es überhaupt Fälle gibt, in denen Beiratsmitglieder später einmal höhere politische Positionen bekommen haben. Aber soweit ich Mitte/Östliche Vorstadt und Neustadt/Woltmershausen betrachte, sind die meisten Beiratsmitglieder in ihrem ehrenamtlichen Engagement sehr begeistert dabei.

Natürlich gibt es oft auch eine Kluft zwischen Beiratsmitgliedern und normalen Einwohnern. Aber so genau läßt sich das nicht sagen. Denn wenn ich die Meinung der Bevölkerung immer so genau kennen würde, dann könnte ich gleich ganz ohne vertretende Organe gut leben.

Sind die in Bremen im Vergleich mit Japan gut organisiert?

Ja, hier sieht es etwas besser aus als in Japan. Denn die spezifisch-japanische Ortsteilorganisation Chonaikai ist undemokratischer und sogar noch etwas feudal organisiert. Formal muß der Chonaikai-Vorstand zwar gewählt werden, aber tatsächlich findet das oft nicht richtig statt, weil nur ein kleinerer Teil der Bevölkerung in den Chonaikai organisiert ist.

In den 70er Jahren gab es in Japan überall sehr starke Bürgerinitiativen. Die wollten ihre Stadtteile selbst verwalten. Aber dann hat sich herausgestellt, daß man dabei doch immer mit den traditionellen Organisationen kooperieren muß. Und dabei verändern sich dann auch die Chonaikai und werden hoffentlich demokratischer.

Ähnlich wie die Bremer Beiräte?

Nein, denn die Grundlage der Bremer Beiräte sind die politischen Parteien. In Japan kann man solch ein Modell nicht anwenden, denn Japaner sind viel weniger in Parteien organisiert. Unsere größte Partei ist die Kommunistische, und die hat nur 300.000 Mitglieder.

Haben Sie den Eindruck, daß die Beiratsarbeit in Bremen durch zuviel Parteipolitik behindert wird?

Ich weiß zwar, daß es in allen Parteien einen Unterschied zwischen Beirats- und Landesebene gibt. Und doch habe ich mich sehr darüber gewundert, daß in den Beiräten oft nach allgemeinen ideologischen Gründen abgestimmt wird. Das bedeutet durchaus ein Hindernis für Basisdemokratie.

Besonders erstaunt hat mich auch, daß in den Beiräten Beschlüsse per Mehrheitsentscheidung gefaßt werden. In Japan beschließt man nicht, und mehrheitlich schon gar nicht. In Japan muß man den Konsens finden. Auch wenn es nur eine Stimme dagegen gibt, kann man nicht weitermachen, sondern muß mit der Gegenstimme sprechen.

Das ist für uns unvorstellbar. Nach diesem Prinzip würde in Bremen überhaupt nichts mehr entschieden.

Ja, das ist eben die traditionelle gesellschaftliche Gesinnung der Japaner, und die meisten glauben, daß Demokratie gerade darin liegt, daß man nicht nach dem Mehrheitsprinzip beschließt. Das ist wirklich ein großer Unterschied. Aber man muß auch sagen, daß die Stadtteilorganisationen in Japan einfach weniger zu entscheiden haben.

Mit welchen Themen befassen sich die Chonaikai besonders oft?

Mit der Organisation der Sozialarbeit im Stadtteil für Behinderte, Ältere Menschen, Kinder... Und es geht um den Protest gegen oder für Sanierungsprojekte. Solche stadtplanerischen Themen kommen oft vor.

Verkehrsberuhigung ist dagegen in Japan überhaupt kein Thema der Bürgerbeteiligung. Es hat mich in Bremen sehr erstaunt, daß es hier soviel um Verkehrsberuhigung geht.

Die Bremer Beiräte beklagen sich oft, daß ihre Beschlüsse von der Verwaltung und dem Senat nicht umgesetzt werden...

Ich kann gut verstehen, warum die Beiräte so oft darüber klagen. Trotzdem haben die Beiräte einige starke Einflüsse gegenüber der Regierung. Japanisch Bürgerorganisationen haben überhaupt kein Entscheidungsrecht. Aber hier hat das der Beirat schon aufgrund des Gesetzes. In Japan gibt es höchstens den Fall, daß die Verwaltung freiwillig den Vorschlägen aus der Bevölkerung folgt.

Sind Ihnen Beispiele aufgefallen, in denen die Bremer Stadtteildemokratie trotzdem nicht funktioniert?

Es hat mich sehr erstaunt, daß die Vertreter der Behörden, wenn sie in den Beirat eingeladen werden, oft sagen: „Ich bin dafür nicht zuständig.“ Das darf man in Japan nicht tun.

Was sagt man denn dort?

Vor 30 Jahren hätte das noch so sein können. Aber heute würde der Beamte sagen: „Es tut mir sehr leid, ich weiß das nicht. Aber in der nächsten Sitzung werde ich Ihnen die Frage beantworten. Bitte warten Sie solange. Entschuldigung.“ Der Stil der Verwaltung ist in Japan doch ziemlich anders als in Bremen.

Woran merkt man das noch?

Die Mitarbeiter der Behörden machen dort sehr viele Überstunden und gehen von Haus zu Haus, um wirklich jeden Bürger von einer Entscheidung zu überzeugen oder etwas zu versprechen: „Wenn Sie dieses Projekt akzeptieren, werden wir Ihnen auch jenes bieten.“ Diese Fleißigkeit der Menschen des Öffentlichen Dienstes hat eine große Bedeutung.

In Bremen ist die nicht so ausgeprägt?

Ich weiß noch nicht, wieviel Überstunden der Ortsamtsleiter macht. Aber wenn in Japan in der tiefen Nacht noch irgendwo ein Bürofenster leuchtet, dann ist es im Rathaus.

Haben Sie einen Rat für die Weiterentwicklung der Bremer Stadtteildemokratie?

Ja. Ich weiß, daß es in Bremen viele Diskussionen über die Einführung eines Bezirkssystems gibt. Ich bin auch dafür, aber ich wundere mich, daß niemand das folgende Modell vorschlägt: Ein Beirat muß nicht einem Ortsamt entsprechen. Es könnten doch drei oder vier Beiräte einem Ortsamt zugeordnet werden.

Der Beirat ist ja nach dem Gesetz allzuständig. Aber um wirklich allzuständig sein zu können, muß man im Ortsamt eine ganze Menge Personal haben. Bisher kann es das in den vielen kleinen Ortsämter nicht geben. Doch mit der Zuordnung eines Ortsamtes zu mehreren Beiräten würde es möglich.

Fragen: Dirk Asendorpf