Wer verhilft zu solcher Erfahrung?

■ betr.: „Das Volk und seine Oppo sition“, taz vom 28. 10. 94

Wer verloren hat, der muß die Schuld dafür bei sich selber suchen. Worin besteht sie also, und was muß getan werden, damit sich die Leute vom Bündnis 90 nicht in der Niederlage und im Sarkasmus verlieren?

Matthias Geis diagnostiziert in seinem dazu instruktiven Artikel unter anderem fehlendes Gespür der Bürgerrechtler für wandelnde Stimmungslagen des Volkes in den letzten fünf Jahren. Er ortet die Zeit vom 9. November 1989 an als die Zeit, aus der die Orientierung der Bürgerrechtler auf die Vergangenheit stammt, während die Volksbewegung die längst schon berechenbare Westperspektive eingenommen hatte.

Nicht gemeinsame Perspektive, bestenfalls die gemeinsame Vergangenheit und deren Aufarbeitung habe sich als einigendes Band der Opposition erwiesen. Mit der Aufarbeitung der eigenen Verfolgung habe sie ihren politischen Bedeutungsverlust betrieben. Geis diagnostiziert aber zugleich deren Immunisierung gegen verquere Arrangements.

Was ist aber, wenn Gespür für die wandelnde Stimmungslage sich nur aus der Aneignung der Vergangenheit von Verfolgung und Duldung gewinnen läßt und wenn dies für alle Zeiten gilt? Vorläufer Gysi hat im Dezember 89 auf einer Veranstaltung anläßlich des Biermann-Comebacks in Ostberlin gewarnt, die DDR aufzulösen, weil sonst die Verdrängung überhandnehmen würde. Doch Chancen und Gefahren sind immer miteinander abzuwägen, und dem Dilemma von unvollendeter Einheit und der vollendeten Verdrängung kann und muß sich auch heute die PDS stellen.

Gerade wegen der totalitären Vergangenheit Deutschlands und der Vergeßlichkeit der Demokratien war die Verantwortungsgemeinschaft der Deutschen zu entfesseln – eine Erkenntnis, die auch der Bürgerbewegung schwerfiel.

Natürlich gibt es auch einen verkürzten Blick auf die Vergangenheit – auch von Bürgerrechtlern, aber auch im Hinblick auf die Bürgerrechtler (wer macht die eigentlich zu solchen?). Wenn ich mir die Protagonisten der Vergangenheitsaufarbeitung ansehe, dann fallen mir noch ganz andere Namen ein: Freya Klier, Rainer Eppelmann, Arnold Vaatz, Angelika Barbe, Markus Meckel, Stephan Hilsberg, Martin Gutzeit, Erhart Neubert, Jürgen Fuchs, Reinhard Schult, Lutz Rathenow, Marko Martin und nicht zuletzt „von Berufs wegen“ Joachim Gauck, Klaus Michael, Joachim Walther, Armin Mitter und Stefan Wolle. Doch denen geht es doch auch nicht nur um die eigene Verfolgung, sondern um die Wiederherstellung der Würde der Opfer der SED-Diktatur.

Nur beim Bündnis 90 fällt's auf! Kann das aber nicht auch mit dem schlechten Gewissen und Verdrängung in Ost und West zu tun haben? Der Blick in die eigenen Akten (Poppe, Templin, Wollenberger) stellt auch da doch nur einen Aspekt dar.

Auch werden Tatsachen verzerrt, wenn Rigidität und Intensität der Vergangenheitsaneignung so ins Verhältnis gesetzt werden, wie Geis es tut. Die Empörung des Volkes zum Beispiel über das Kirchenasyl für Honecker und der Paternalismus mancher „Bürgerrechtler“ korrespondieren nämlich mitunter erstaunlich, auch wenn sich die eine Seite über die andere jeweils empört. Also – was ist zu tun? Ist die Immunität des bürgerbewegten Ansatzes aufzuheben? „In weiter Ferne, so nah“ sind Macht und Ohnmacht des Volkes und seiner Opposition vereint, doch wer verhilft uns zu solcher Erfahrung? Jochen Goertz, Berlin