„Wir sind zu wilden Tieren geworden“

Im weiterhin international geächteten und ständig weiter verarmenden Irak wächst das wirtschaftliche und psychische Elend / „Unsere Gesellschaft ist korrumpiert und verdorben“  ■ Aus Bagdad Henri Heron

Fünfundreißigtausend Dinar will der Verkäufer für seine Ware haben: die Tür seines Wohnzimmers. „Wozu braucht man eine Tür, wenn der Hunger in den Eingeweiden nagt“, sagt der 50jährige Beamte Mouhssen (alle Namen von der Redaktion geändert) bitter. Zu Hause warten neben seiner Frau fünf Kinder, die er ernähren muß. Zwei von ihnen besuchen die Universität. Ein weiterer Sohn hat dieses Jahr Abitur gemacht. Statt zu studieren, ging er zur Armee, um etwas zum Lebensunterhalt der Familie beitragen zu können.

Mouhssen versucht sein Glück auf einer Art Flohmarkt im Bagdader Stadtviertel Al-Mansour, wo Angehörige der Mittelschicht und wohlhabende Familien leben. Hier kann man, wenn man Geld hat, so manches Schnäppchen machen, denn die heutigen Verkäufer waren stolze Besitzer manch schöner und teurer Dinge, ehe die Umstände sie zwangen, ihre Habseligkeiten feilzubieten. Auf dem Markt findet man Jacken, Anzüge, Schuhe, Geschirr, Brillen, Tonbandgeräte, Bücher. „Ich habe den ganzen Goldschmuck meiner Frau verkauft, den sie als Brautgeld erhalten hat“, sagt Mohssen. „Das gleiche habe ich mit vielen unserer Möbel gemacht. Wir haben nur das Nötigste behalten. Dann habe ich mir überlegt, was ich sonst noch verkaufen kann. Gott hat mir die Idee eingegeben. Die Türen, Mohssen, die Türen! sagte mir eine innere Stimme.“

Seit drei Wochen kommt Mohssen jeden Tag mit seiner Tür auf den Markt. „Das Warten lohnt sich“, sagt er. „Wenn ich einen Kunden finde, werde ich soviel verdienen wie sonst in zehn Monaten.“ Als „glücklicher“ Beamter, wie er sagt, erhält er monatlich 3.500 Dinar, etwa zehn Mark. „Wenn ich die Tür verkaufe, dann werde ich für meine Familie Fleisch kaufen, vielleicht ein Hähnchen oder einen großen Fisch. Und ein oder zwei Kilo Obst.“

Vor drei Jahren hat Mohssen zu rauchen aufgehört. Der Preis für eine Schachtel Zigaretten entspricht seinem Lohn von drei Arbeitstagen. „Siehst du, wie ich mich anziehe?“ fragt er, hebt seinen rechten Fuß und zeigt seine schwarzen Hausschuhe aus Plastik. „Ich habe nur noch ein Paar Schuhe. Ich trage sie nur, wenn ich zur Arbeit gehe oder wenn ich jemanden besuche. Das mache ich nur selten, denn ich will das Budget der Bekannten und Verwandten nicht belasten. Ehrlich gesagt, fürchte ich auch, daß sie mich dann besuchen kommen. Aber unsere Lage ist noch besser als die vieler anderer Familien. Sieh dir mal an, wie die Armen leben“, sagt er und wendet sich ab, um seine Tränen zu verbergen.

„Du fragst mich, wie wir leben? Wie in der Hölle!“ schreit mir eine Hausfrau ins Gesicht. Hamed, ihr Mann, versucht, sie zu beruhigen, und lächelt mich hilflos an. „Unsere Lage ist schwierig. In den letzten Jahren habe ich weiße Haare bekommen.“ Der Tagelöhner Hamed lebt mit seiner siebenköpfigen Familie in einem Dreizimmerhaus in Madinat al-Thaura, der „Stadt der Revolution“, einem Armenviertel Bagdads. Wir sitzen auf zerfetzten Matratzen, den einzigen „Möbeln“. Jeden Tag, kurz vor Sonnenaufgang, geht Hamed ins Betaween-Viertel, wo sich Tausende von Arbeitsuchenden sammeln. „Manchmal finde ich eine Woche lang keine Arbeit“, sagt Hamed. „Wenn jemand auf der Suche nach Arbeitern vorbeikommt, dann wird er von uns regelrecht umzingelt. Wir betteln um Arbeit. Einer sagt vielleicht: Guck mal, ich bin kräftiger als die anderen. Ein anderer bietet an, für weniger Geld zu arbeiten. Manchmal gibt es eine Schlägerei. Wir sind zu wilden Tieren geworden. Alle haben eine Familie zu ernähren.“ Seit zwei Jahren schickt Hamed seine Kinder nicht mehr zur Schule. Die ältesten, zehn und zwölf Jahre alt, verkaufen Zeitungen und Zigaretten. Die jüngsten verbringen die meiste Zeit auf den Straßen.

„Die subventionierten Lebensmittelrationen sind unsere einzige Chance, zu überleben“, erklärt seine Frau Souad, nun etwas ruhiger. Mit zitternden Händen füllt sie kleine Teegläser. „Es gibt nur Mehl, Zucker, Reis, Tee, Speiseöl, Waschmittel und Seife. Die Menge reicht normalerweise für zehn Tage, aber wir haben davon den ganzen Monat gelebt. Jetzt hat die Regierung die Lebensmittelrationen noch mal reduziert. Waschmittel und Seife erhalten wir nicht mehr. Kaufen kann ich das nicht, die Preise sind horrend.“

Souad ist krank. Sie hat Schmerzen im ganzen Körper. Hamed hat sie vor drei Wochen zum Arzt begleitet. „Nervosität und psychische Überanstrengung“ lautete die Diagnose. Der Arzt stellte ein Rezept aus. In der Apotheke hieß es dann, die Medikamente seien nur auf dem Schwarzmarkt zu haben. Das würde 700 Dinar in der Woche kosten. „Woher sollen wir das Geld nehmen?“ fragt Souad. „Ich versuche einfach, die Schmerzen zu vergessen.“

Salim, ein Taxifahrer, entwickelt den Ehrgeiz, mir die negativsten Seiten Bagdads zu zeigen. Wir fahren durch die Shara'al-Nidal, „Straße des Kampfes“, im Karadah-Viertel. Plötzlich hält er an und weist auf eine Gruppe von sechs jungen Mädchen, die am Rande der Straße hocken. Vier, die 18 Jahre alt sein mögen, tragen das traditionelle schwarze Umschlagtuch der armen Viertel und Dörfer. Zwei jüngere Mädchen sind in Lumpen gehüllt. Wenn jemand vorbeikommt, laufen sie hinterher und betteln.

Da hält ein Auto neben den jungen Frauen. Eine geht zum Fahrer, redet durchs Fenster, winkt den anderen zu und steigt ein. „Sie hat sich für heute ihr tägliches Brot verdient“, sagt Salim, der Taxifahrer. „Die meisten Familien dieser Frauen, die meisten Ehemänner wissen genau, wie ihre Töchter und Frauen das Geld verdienen. Sie wollen nur den Verdienst am Ende des Tages sehen. Gott verzeihe uns allen.“

Von der „Straße des Kampfes“ fahren wir weiter in die „Straße des Friedens“, die Schara'al-Salam. Vor einem großen Gebäude haben sich Hunderte von Männern und Frauen mit Tüten versammelt. Auf einem Schild steht „Besserungsanstalt Bagdad“, es handelt sich um ein Gefängnis. „Heute ist Besuchstag“, sagt Salim. „Die Kriminalität hat zugenommen. Diebstahl, Mord, Vergewaltigung, Drogen, alles. Ich erlaube meinen Kindern nicht mehr, alleine auszugehen, besonders meiner Tochter nicht.“ Die Tochter seines Nachbarn sei zwei Tage verschwunden gewesen, am dritten habe man ihre Leiche gefunden. Das 17jährige Mädchen war brutal vergewaltigt worden.

Gegen die Kriminalität greift das Regime zuweilen zu brutalen Strafen. Auf Diebstahl steht die Amputation einer Hand. Deserteuren wird ein Ohr abgeschnitten. Diese Körperstrafen führten in mehreren Städten, vor allem in Basra im Süden, zu Protestdemonstrationen. Mittlerweile werden diese Strafen nicht mehr so häufig verhängt.

Nun will Salim mir noch eine ganz besondere „Sehenswürdigkeit“ vorführen. Am Ufer des Tigris stoßen wir auf eine riesige Baustelle. Eine Fläche von vielen tausend Quadratmetern ist von einer fast drei Meter hohen Mauer umgeben. Durch das große Tor sieht man Hunderte von Arbeitern. Dutzende schwerer Lastwagen, Kräne und Planierraupen sind im Einsatz. Hier wird der neue Palast für „Almagedah Al-Ulah“ gebaut, die „erste ruhmvolle Frau“ im Lande, wie die Ehefrau Saddam Husseins genannt wird.

Im März hatte der Revolutionsrat, der von dem irakischen Diktator geleitet wird, einen Erlaß verabschiedet, demzufolge das irakische Volk der „Frau des geliebten Führers“ einen Palast schenken möchte. Der Grund: ihre „historische Rolle“ bei der Erziehung der Kinder des Paares, vor allem des ältesten Sohnes Udai und des jüngeren Kusai. Auf dem Gelände sollen auch Villen für Gäste und Leibwächter, ein Schwimmbad und Tennisplatz errichtet werden.

So, wie der Vater für die „Erziehung“ der Nation zuständig ist und die Mutter für die der Kinder, ist Sohn Udai verantwortlich für die „Erziehung“ der jungen Generation. Udai ist Chef des Journalisten- und Schriftstellerverbandes, Chef des olympischen Komitees, Chefredakteur der Tageszeitung Babel und Besitzer der einzigen „privaten“ Rundfunk- und Fernsehstation, die den Namen „Stimme der Jungen“ trägt. Vor einigen Monaten begann Udai mit einer neuen Kampagne, die den Namen „1.001 Sänger und Sängerinnen“ trägt. Im ganzen Land soll nach neuen Stimmen gesucht werden, die dann in seinem Programm auftreten dürfen. Viele Iraker sagen, daß sie sich lieber langweilige politische Kommentare anhören, als sich von den schrecklichen Stimmen der auf solche Weise „entdeckten“ Sänger und Sängerinnen foltern zu lassen.

Für Udai hat diese Kampagne auch einen geschäftlichen Aspekt. Jeder der neuen Stars muß einen Fünfjahresvertrag unterzeichnen, nach dem 50 Prozent der Einnahmen aus Konzerten oder Auftritten in Nachtclubs an Udai gehen. Auch mit der Werbung macht Udai ein gutes Geschäft. Vertreter seines Senders, meistens elegante junge Frauen, suchen Geschäftsleute auf und fragen mit zuvorkommendem Lächeln, ob sie Werbung schalten wollen. Wer wagt es da, nein zu sagen?

Auch auf anderen Gebieten hat Saddam Hussein mittlerweile die Stützen seiner Macht reorganisiert und verstärkt. Die Agenten des Geheimdienstes und die Angehörigen der Republikanischen Garden und der Sondereinheiten, die für die Sicherheit des Regimes verantwortlich sind und von Sohn Kusai geführt werden, genießen große Privilegien. Sie bekommen höhere Gehälter und größere Lebensmittelrationen. Das Regime teilt ihnen Grundstücke zu und gewährt großzügige Finanzhilfe für den Hausbau oder den Autokauf.

„Die psychologischen, moralischen und ethischen Konsequenzen des Embargos sind viel tiefgreifender als die wirtschaftlichen“, meint Djamal, ein irakischer Schriftsteller. „Das Embargo wird früher oder später aufgehoben werden; die wirtschaftlichen Folgen lassen sich mit Geld beseitigen. Aber die moralischen und ethischen? Das Embargo, die Folgen des Krieges und die Unterdrückung des Regimes haben viele unserer Traditionen und Werte zerstört. Sie haben unsere Gesellschaft korrumpiert und sie verdorben.“

Es ist das erste Mal während meines Aufenthaltes in Bagdad, daß im Gespräch das Wort „Embargo“ fällt. Darauf angesprochen, entgegnet Djamal: „Die Leute haben aufgehört, an das Embargo zu denken oder wann es aufgehoben wird. Sie glauben, daß sie zu Geiseln in einem blutigen Spiel zwischen Saddam Hussein und den Amerikanern geworden sind. Sie können nichts tun. Deshalb kämpfen sie, manchmal auch gegeneinander, um das eigene Überleben.“

Könnte die andauernde wirtschaftliche Misere nicht auch zu einem Aufstand führen? „Die meisten Leute wissen genau, daß das Regime brutal zuschlagen würde“, erwidert Djamal. „Ich bete zu Gott, daß die Leute passiv bleiben. Die Brutalität, die das Regime in die Gesellschaft eingepflanzt hat, und die Ergebnisse des Embargos würden jeden Aufstand in ein blutiges Massaker verwandeln. Im Vergleich zu dem, was dann bei uns geschehen würde, ist Ruanda nichts.“