GAU wahrscheinlich

Auch die russische Regierung ist sich der Zeitbomben im eigenen Land bewußt – und hilflos  ■ Von Donata Riedel

Berlin (taz) – Die russische Regierung weiß um die Gefahren, die von den Atomanlagen in ihrem Land ausgehen. Ein interner Bericht der Atomaufsichtsbehörde, der dem britischen Observer zugespielt wurde, übertrifft die schlimmsten Befürchtungen westlicher Regierungsstellen. „Ein zweites Tschernobyl ist jederzeit möglich“, warnen die russischen Atomaufseher. Besonders die zum Militärkomplex zählenden Plutoniumfabriken Tomsk-7 in Sibirien und Majak im Südural, in denen es im vergangenen Jahr zu schweren Unfällen mit Freisetzung von Radioaktivität kam, seien „tickende Zeitbomben“.

Gleichzeitig dokumentiert der Bericht die Hilflosigkeit der zivilen Atomaufseher gegenüber den Militärs. Genau wie westlichen Experten wurde auch russischen Behördenvertretern der Zutritt zu Militäranlagen verweigert. Wie stark nun genau die Umgebung der 500.000-Einwohner-Stadt Tomsk bei der Havarie vom 7. April 1993 verseucht wurde, wissen die zivilen Aufseher ebensowenig wie die Bevölkerung.

So kennt nicht einmal die russische Regierung die Menge nuklearen Materials in ihrem Lande. Transporte würden nur ungenügend kontrolliert, heißt es in dem Bericht. Es habe Atomtransporte in „völlig unzureichenden Behältnissen“ gegeben, die nicht gekennzeichnet waren. Außer Kontrolle sei auch der Atommüll: „Ungefähr 610 Kubikmeter“ Atommüll gebe es, der häufig vergraben, in die Landschaft geschüttet oder in einfachen Metallbehältnissen gelagert werde. Und von 69 schrottreifen Atom-U-Booten sei nur bei 36 der Reaktor ausgebaut worden. Die Annahme, daß die übrigen samt Reaktoren im Meer versinken, sei „realistisch“.

Aus den akribisch aufgelisteten Schwachstellen der diversen Nuklearanlagen leiten die Aufsichtsbeamten nicht etwa die Forderung nach einem Atomausstieg ab, sondern die nach westlicher Hilfe für Reparaturen: 20 Milliarden US- Dollar seien dafür notwendig, eine Zahl, die auch in diversen Weltbankberichten genannt wird. Bisher flossen aus westlichen Kassen 1,6 Milliarden US-Dollar in die GUS, von denen die Hälfte für Steuerungstechnik im ukrainischen Tschernobyl ausgegeben wurden. Über Tschernobyl hieß es bereits im Mai in einem Weltbankbericht, daß die Wahrscheinlichkeit eines weiteren GAUs in diesem Winter größer sei als die Chancen, daß alles gutgehen wird.

Von westlicher Seite nimmt die Hilfsbereitschaft mit der geographischen Entfernung ab. Die EU, die sich durch Tschernobyl, das litauische Ignalina und das westrussische Sosnowy Bor bei St. Petersburg bedroht sieht, schickt ihre Experten höchstens bis nach Tscheljabinsk im Ural, aber nicht mehr bis nach Tomsk. Auch bei steifstem Ostwind käme wohl keine Strahlenwolke von Tomsk bis Berlin. Die Regierungen Japans und der USA, in sicherer Entfernung zu jeder Atomanlage der GUS, haben sich bislang völlig zurückgehalten.