Finanzminister leugnet Steuerloch

■ Mogelpackung von Waigels eigenen Experten enttarnt

Berlin (taz/AP) – Wenn Theo Waigel sich an die Verfassung hält, dann fließen ab 1996 mindestens 40 Milliarden Mark weniger Steuern in die Staatskasse. Nicht etwa Politiker der Opposition, sondern von Waigel selbst ausgewählte Experten haben jetzt die Finanzpläne des Bonner Kassenwartes gründlich auseinandergenommen. Die siebenköpfige Expertenkommission unter Vorsitz des Steuerrechtlers Hans-Peter Bareis mahnt den Finanzminister zunächst eindringlich, sich an die Verfassung zu halten. Danach darf der Staat von Bürgern, die weniger als das Existenzminimum verdienen, nicht auch noch Steuern kassieren.

Bis Ende 1995, so das einschlägige Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1992, müsse das Steuerrecht so geändert werden, daß, wer weniger als 13.000 Mark im Jahr verdient, keine Steuern zahlt. Keineswegs, so die Bareis-Kommission in ihrem Gutachten, dürfe sich Waigel mit irgendwelchen Stufenplänen oder Übergangsregelungen um die Umsetzung des Urteils herummogeln und weiterhin bei den niedrigsten Einkommen abkassieren.

Während Waigel auch am Wochenende behauptete, die überfällige Reform würde nur zu Steuerausfällen von 15 Milliarden Mark führen, rechnet Bareis mit 40 bis 49 Milliarden, die der Staat dann, angesichts leerer Kassen, aus anderen Quellen hereinholen muß. Die Expertenkommission richtet dabei ihr Augenmerk auf alle, die mehr als das Existenzminimum verdienen. Im Detail schlägt Bareis vor:

– Der steuerliche Grundfreibetrag wird ab 1996 auf 13.000 Mark jährlich angehoben (derzeit liegt er bei 5.616 Mark).

– Was darüber liegt, wird zunächst mit 22 Prozent besteuert – um drei Prozent höher als bisher.

– Bei höheren Einkommen soll der Steuersatz linear ansteigen, bis er bei einem Jahresverdienst ab 120.000 Mark 53 Prozent erreicht.

– Alle Lohnersatzleistungen und Altersgelder wie Rente, Krankengeld, Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe sollen wie normale Einkommen versteuert werden.

– Sonntags- oder Nachtarbeit wird genauso besteuert wie die Arbeit an Wochentagen.

– Die Kirchensteuer wird künftig wie eine Spende behandelt.

Auch die Besserverdienenden will die Bareis-Kommission nicht verschonen und die vielfältigen Abschreibungsmöglichkeiten drastisch einschränken:

– Keine Sonderabschreibungen mehr soll es für Eigenheime und Miethäuser, Fabrikgebäude, Umweltinvestitionen, Baudenkmäler oder Häuser in Sanierungsgebieten geben.

– Wer beim Verkauf von Immobilien und Aktien Gewinne macht, muß darauf Steuern zahlen.

Der Bareis-Bericht wird morgen an Bundesfinanzminister Theo Waigel übergeben. Dann werde er, so das Ministerium am Wochenende, „eingehend geprüft“. Dennoch wußte ein Waigel-Sprecher schon gestern, daß eine Lösung „möglich sein sollte“, die zu Steuerausfällen von lediglich 15 Milliarden Mark führe.

Nach Darstellung der SPD wurde das Gutachten wegen der darin enthaltenen Steuererhöhungen absichtlich bis nach der Bundestagswahl zurückgehalten. Die Weigerung, das Gutachten vorher zu veröffentlichen, sei ein „gezieltes Täuschungsmanöver“ gewesen. Donata Riedel