Zynische Zensur

■ Stadt München verbietet Kunstaktion zum Gedenken an die Reichspogromnacht

München (taz) – Am vergangenen Samstag wollte der Maler und Aktionskünstler Wolfram Kastner in der Münchner Fußgängerzone eine Aktion zum Gedenken an die Reichspogromnacht am 9. November 1938 durchführen. Wie schon ein Jahr zuvor sollten fünf Männer in SA-Uniform drei Personen mit Davidstern durch die Straßen führen. Doch die Stadt München hat die angemeldete Aktion „in einer schändlichen Entscheidung“ abgelehnt, kritisiert Jerzy Montag, der Rechtsanwalt des Künstlers. Zunächst ließ man Kastner ein halbes Jahr auf einen Bescheid warten. Dann wurde der Antwortbrief so kurzfristig von einem städtischen Boten überbracht, daß juristisch nichts mehr dagegen unternommen werden konnte.

In der Ablehnung heißt es, daß für Passanten auf den ersten Blick nicht erkennbar sei, „daß es um eine nachgestellte Szene handelt“. Niemand, so befindet das Münchner Baureferat, könne abschätzen, was derartige Bilder bei Menschen, die solche Szenen vor Jahrzehnten real erlebt hätten, auslösen könnten. Man habe besondere Verantwortung „für die seelische und damit auch die körperliche Unversehrtheit der Straßenbenutzer“.

Zynische Zensur sei das angesichts der ständigen Bilder von Neonazihorden, die mit ihren „Ausländer-raus“-Parolen durch die Städte zögen, so der Anwalt Jerzy Montag.

Als Wolfram Kastner 1993 die gleiche Aktion unangemeldet durchführte, im Vertrauen darauf, daß es sich um genehmigungsfreie Kunst und nicht um eine Demonstration handele, wurden er und die Darsteller verhaftet. Am morgigen Dienstag muß sich Wolfram Kastner daher in München vor Gericht verantworten.

Zahlreiche Personen aus der Kunstszene solidarisierten sich mit dem Aktionskünstler, darunter der Direktor der Hamburger Kunsthalle, der Rektor der Hochschule für Bildende Künste in Frankfurt, der Direktor des Münchner Hauses der Kunst und die Organisatorin der kommenden „Documenta“. Klaus Wittmann