Am grünen Rand der Welt

Eindrücke im Hochland von Guinea, einem der abgeschiedensten Länder der Erde / In Westafrikas „Wasserschloß“ hat afrikanische Tradition überlebt, aber die neue Zeit nähert sich mit Riesenschritten  ■ Von Volker Janssen

Es ist kühl in der Rundhütte. Glattverputzt die Wand, das Strohdach getragen von Bambusstangen, die zum Schutz vor Feuchtigkeit und Termiten geräuchert wurden. Auf einem Tisch eine große Blechkiste und mehrere Koffer, an einem gespannten Seil Kleidungsstücke. An der Wand lehnt ein Gewehr. Die in große Blätter eingewickelten Maiskolben und Sorghumbüschel sind das Saatgut für die kommende Saison. Draußen wirft das tief heruntergezogene Dach Schatten, ein bankähnlicher, rundum laufender Anbau lädt zum Verweilen ein. Die Außenwand ist bemalt. Linien kleiner Steine markieren einen Vorhof.

Zehn bis 40 solcher Hütten, in Lichtungen laubabwerfender Feuchtwälder, bilden die Dörfer der Malinke in Oberguinea.

Ein Ausrufer hat die in Umhänge oder Jacken aus dem Secondhand-Ausstoß der Industrieländer gewandeten Bauern mit lauter Stimme und Trommel unter einem Baum versammelt. Jetzt berichten sie: Fruchtbar sind die Böden, die sie fast nur mit der Hacke beackern. Wenn der Regen stimmt, wachsen genug Reis, Mais, Hirse, Knollenfrüchte, um alle satt zu kriegen. Verkauft wird wenig. Wenn eines Tages, nach jahrelangem Anbau, die Fruchtbarkeit nachläßt, wird ein Stück des umgebenden Waldes gerodet. Nur wenige bauen die Verkaufsfrucht Baumwolle an. Aber fast alle halten Rinder – Sparguthaben, wie das die Fremden nennen.

Die Männer lieben die Jagd. Dorfschmiede fertigen Gewehre und Munition. Kollektive Treibjagden sind selten, die einsame Pirsch ist beliebter. Der Büffel ist besonders begehrt und entsprechend rar; Gazellen tun es auch. Bruderschaften der Jäger pflegen und tradieren das notwendige Spezialwissen inklusive der – eher minimalen – Regeln. Gebietsfremde Jäger jagen immer öfter heimlich und umgehen so das Gebot, den Dorfhonoratioren und dem Bruderschaftschef die besten Stücke der Beute zu überlassen.

Nur wenige Sendboten der technisiert-modernen Welt findet man in den Dörfern, am ehesten Fahrräder und Radios, nicht jedoch wellblechgedeckte Zementhäuser, Motorräder oder gar batteriebetriebene Fernseher. Unterschiede etwa zwischen „großen“ und „kleinen“ Bauern sind nicht ersichtlich. Aber wenn jemand, beispielsweise in einem Entwicklungshilfeprojekt, ein Extrageld einstreicht, verheimlicht er das lieber, weil der „Neid“ der anderen ihn zur „Umverteilung“ nötigen würde. Das Leben der Malinke ist noch wenig monetarisiert, Geld brauchen sie nur für die genannten Fortschrittsträger, für Kleidung, einige Haushaltssachen, medizinische Versorgung (sofern erreichbar), die Entrichtung des Brautpreises und, in schlechten Zeiten, für den Zukauf von Nahrung. Auf Steuern verzichtet der Staat seit einigen Jahren aus politischen Gründen.

In hellen Mondnächten wirkt diese abgeschlossene Welt besonders heil und friedlich. Vor den Hütten sitzen die Leute und reden miteinander. Eine Mutter lehrt ihrem Dreijährigen händeklatschend und singend erste Tanzschritte. Ein Alter liegt etwas abseits und singt vor sich hin.

Eine schlimme Vergangenheit ist noch wach bei ihnen. Mali, eines der alten westafrikanischen Großreiche, lag hier; nach seinem Untergang im 17. Jahrhundert etablierten sich dörfliche Föderationen. Im Widerstand gegen Frankreichs koloniale Expansion festigte Ende des 19. Jahrhunderts der Heerführer und Staatsgründer Samory Touré seine Herrschaftsambitionen; in vielen Malinke-Dörfern sieht man noch Reste von Befestigungsmauern, die Schutz gegen seine Zwangsrekrutierungen bieten sollten. Vergeblich war beides: die Franzosen wurden die neuen Herren und führten Kopfsteuer und Zwangsarbeit ein.

Sékou Touré, vielleicht ein entfernter Nachkomme Samorys, führte Guinea 1958 als erstes Land des frankophonen Schwarzafrika in die Unabhängigkeit und in die Abschottung gegenüber westlichen Einflüssen. Ratgebern aus dem Osten verschloß Touré sich nicht: er diktierte den Bauern Produktionsnormen, zwang sie zu Naturalabgaben und halste ihnen Ochsenpflug- und Traktorbrigaden auf – mit desaströsen Ergebnissen. In manchen Dörfern rosten oder – seltener – tuckern noch heute Traktoren aus Rumänien. Die Bauern haben, das merkt man in Gesprächen, die Traumata dieses weitgehend von Zwang geprägten Jahrhunderts noch nicht überwunden.

Hier in Oberguinea entspringt der Niger-Fluß. Hier, im „Wasserschloß“ Westafrikas, sollen ihn üppige Regen und Zuflüsse stark und breit machen für seinen über 4.000 Kilometer langen Weg durch Mali und Niger nach Nigeria. Sein Pegel sinkt seit langem, der guineische Oberlauf ist aber noch stark genug, daß an seinen waldgesäumten Ufern die Somonos monatelang Lager halten. Ethnisch mit den Malinke verwandt, sind sie je nach Jahreszeit Bauern oder Fischer. Malinke-Frauen räuchern den Fang noch am Strand, Malinke- Männer besorgen per Fahrrad über Waldpfade den Abtransport. Sonst kommt hier nur manchmal, eines kleinen Tauschgeschäftes und der Neuigkeiten wegen, ein Jäger vorbei, so gut wie nie jedoch ein Funktionär. Ungestört lebt es sich an diesen Stränden, unter breiten Bäumen am klaren Wasser.

Bis zu seinem Tod 1984 schirmte der Diktator Sékou Touré sein Land nahezu perfekt ab. Zehn Jahre später haben die internationalen Entwicklungsapparate längst Fuß gefaßt und Netze ausgeworfen. Nicht, daß die „Zielgruppen“ darin zappeln, aber ein mehr oder weniger sanfter Sog zieht sie doch in andere Welten. Er zieht sie vor allem auf neue Straßen und Brücken. Denn es fehlt, sagt fast jeder, an Infrastruktur. Aber die Bauern wünschen sich vor allem bessere Arbeitsgeräte: Pflüge mit Ochsen davor. Und Schulen. Die Frauen, die weitaus mehr arbeiten als die Männer, haben noch weniger Chancen, Arbeitserleichterungen einzuklagen.

Der Sog erfaßt auch die noch erhaltenen natürlichen Reichtümer. In Dörfern an gut befahrbaren Pisten kann man zuweilen eine entfernte Motorsäge aufheulen hören und am Dorfrand stapelweise die riesigen Stämme des hiesigen Leitbaumes Lingué liegen oder auf einem LKW verladen sehen. Eine Konzession zum Einschlag ist selten, Fäller aus der Stadt zahlen – manchmal – eine „Gebühr“ an das Dorf und die Waldbehörde. Oder die Dorfbewohner fällen selbst.

In Faranah, eine der wenigen Städte Oberguineas, wird dir beim Bummel durch die Straßen plötzlich ein „Tigerfell“ angeboten. Wenn du dich interessiert zeigst, wirst du in ein lebhaftes Viertel geführt, wo dein „Geschäftspartner“ dich erst in eine Boutique führt und dann eine Kiste öffnet, um die Ware auf dem Boden auszubreiten – zwei Leopardenfelle. Es wird offensichtlich hemmungslos gewildert, wohl weniger von den dörflichen Jägern als von Städtern, Staatsbeamte inklusive. 30 Gazellen sind mit Hilfe von blendenden Lampen in einer Nacht ohne weiteres zu schaffen.

Wo die so etwas unterbindende beziehungsweise regulierende Staatsgewalt sei, magst du dich dann fragen. In der Regionalhauptstadt mit dem beschwingten Namen Kankan findest du dann das regionale Amt für ländliche Entwicklung, das seine Büros in einer von Luftdurchzug und dicken Mauern gekühlten Kolonialvilla mit großen Veranden hat, und du siehst leere Schreibtische und leere Regale und triffst auf freundlich- resignative Funktionäre, die Zeit für lange Gespräche haben.

Dann gehst du zur CFDT, der halbstaatlichen, gewinnorientierten Baumwollkompanie, und findest in deren klimatisierten Containern kaum einen Sitzplatz, so vollgepackt sind die mit Computern, Fotokopierern und Aktenordnern. Knapp und präzise informieren dich französische Mitarbeiter. Nur einmal rutscht einem etwas Unpräzises heraus: Wahlen und Demokratie seien schlecht für Guinea, wegen plündernder Massen und wegen des konfliktträchtigen Gegensatzes zwischen der Regierung und den Regionen.

Kankan war eine vorkoloniale Handelsmetropole und dann ein zentraler Ort der Kolonialverwaltung. Jetzt geht ein Jahrhundert zu Ende. Vor zerfallenden Zeugen des frühen 20. Jahrhunderts, nämlich Stadthäusern mit Bögen, Balkons, Veranden, Säulen, Erkern, Emporen, breitet sich der Überschußplunder des späten aus, Plastik und abgelegte Kleidung aus Europa und Nordamerika. Dazwischen schauen sich Menschen beim Zuschauen zu. Ein ambulanter Händler verheißt ein zeitmessendes Vogelei, es sei aber noch in seinem Dorf – ob Interesse bestehe? Noch am späten Abend rattern am Straßenrand im Licht von Funzeln Nähmaschinen; die Secondhand- Importe haben das Gewerbe hier noch nicht kaputtgemacht.

Und dann ist da noch, weit weg auf einem schmalen Halbinselzipfel fast im Meer liegend, Conakry, die Hauptstadt. Sie gilt als die egalitärste Hauptstadt der Welt, weil sie weder exklusive Nobelviertel noch echte Slums habe. Die eher homogene Architektur scheint das zu bestätigen, die hohe Arbeitslosenzahl weniger. Auch der Schmutz in den Straßen ist nicht gleichmäßig verteilt: hier knie-, dort nur fußhoch. Auf's Meer gerichtet stehen, neben einem der wenigen internationalen Hotels, zwei rostige Flugabwehrkanonen.

Aber die täuschen: Guinea ist, wenn es nach den Strukturanpassern von Weltbank und Internationalem Währungsfonds geht, auf Öffnung programmiert. Dörfer, Regionen, das ganze Land, alles soll sich öffnen. Und alle sollen sich selbst und alles, was „Ressource“ ist, mobilisieren, um die „Freiräume“ zu nutzen. Das ist die Botschaft der Strukturanpassungsprogramme. Nach etlichen Jahren Umsetzung derselben ist Guinea auf einer UN-Liste für Menschliche Entwicklung, deren Indikatoren Lebenserwartung, Alphabetisierung und reale Kaufkraft sind, auf dem 160. und damit letzten Platz angekommen.

Es will ja keiner Mauern um die Dörfer ziehen. Nur sollten die Öffner vielleicht mitteilen, in welche Richtung Bauern aus Oberguinea aufbrechen könnten – ohne sich hoffnungslos zu verirren. Richtung Weltmarkt? Von dem ist Schwarzafrika eh' schon fast abgekoppelt, zudem käme Guinea dort als einer der allerletzten an. Seine Bergbauprodukte Bauxit, Eisenerz, Gold, Diamanten und wohl auch Uran freilich finden immer Absatz. Sie machen die Regierung dieses sehr fruchtbaren Landes von Agrarexporterlösen letztlich unabhängig – und tendenziell gleichgültig gegenüber dem, was und wie die Bauern so produzieren.

Von April bis Juli zieht sich entlang einigermaßen befahrener Straßen in den Ortschaften eine rotgoldgelb leuchtende Spur: aufgehäufte Mangos. In Deutschland fast noch Luxusfrucht, werden sie einem in Guinea für umgerechnet fünf Pfennig das Stück nachgeworfen. Und verrotten doch haufenweise. Es soll mal eine Fabrik gegeben haben, die sie verarbeitete ...