„Ich bin atemlos vor Zorn“

■ Der Literat Mario Simmel spricht am 10.11. zur Reichspogromnacht in Bremen

Johannes Mario Simmel wird an der Gedenkveranstaltung zur Reichpogromnacht im Bremer Rathaus teilnehmen. Wir sprachen mit ihm.

taz: Woran denken Sie mehr am 9. November, an 1938 oder an den Mauerfall 1989?

Mario Simmel: 1938, klar. Es hat auch die Revolution 1918 am 9. November gegeben. Wer weiß, was noch. In dem Falle ist es für mich aber klar. Das hängt damit zusammen, daß die Nazi-Geschichte ein ungeheures Trauma in meinem Leben ist. Seit ich denken kann.

Es geht nicht nur darum, daß wir es nicht vergessen dürfen. Sie sind ja schon wieder da, wir habens ja schon wieder. Es ist auch nicht fünf vor zwölf, es ist halb drei in der Früh'. Jeder von uns muß alles dafür tun, daß diese Hölle von Rechtsradikalen ... gestoppt wird.

Haben Sie persönliche Erinnerungen an den 9. November?

Nur indirekt. Damals haben wir in England gelebt, ich war 14 Jahre alt. Politisch war ich hellwach. Mein Vater war Jude und er hatte viel mit der SPD zu tun, also doppelt belastet.

In Deutschland hat der Rechtsradikalismus absurderweise durch das Hinzukommen der so antifaschistischen DDR neue Impulse bekommen.

Der Antifaschismus drüben war verkommen zu einer Farce, wie vieles, was einmal gut war am Sozialismus. Als die Mauer fiel, gab es da einen Nachholbedarf. Bei uns gab es ja in den 50er Jahren die ersten beschmierten jüdischen Friedhöfe und die NPD war mit 10 Prozent in die Landtage gekommen. Nach Hoyerswerda ist das sofort auch zurückgekommen, Solingen liegt im Westen.

Ist die westdeutsche Politik mitverantwortlich für den herrschenden Rechtsradikalismus?

Nach 1945 sind die Nazi-Richter übernommen worden, die Industriellen, die sich blöd verdient haben, sind geblieben, die NVA ist genauso von Nazi-Generälen aufgebaut worden wie das Militär bei uns. Die Bürokratie ist geblieben. Ich bin nach Amerika geschickt worden, denn von wem sollte ich hier Journalismus lernen?

In der ehemaligen DDR sagen heute viele: Ihr habt Eure Nazis nicht verfolgt, laßt unsere Stasi- ...

Die haben recht. Es funktioniert doch wieder nicht, Sie Sehen doch, was das für Prozesse sind. Von den armen Jungs an der Mauer werden ein paar eingesperrt, die anderen sind zu alt, zu blöd, zu krank. Und welches Recht soll man denn anwenden?

Die sagen zu Recht: Haltet bloß die Fresse, ihr habt soviel Dreck am Stecken. Fangt bloß nicht an, uns madig zu machen, weil es bei uns IM's gegeben hat. Was war denn mit Globke, dem Intimus des Kanzlers Erhard? Was war mit tausenden von Globkes? Nazis wie Eichmann wurden doch mit offizieller Hilfe auch des Vatikan nach Südamerika ausgeschleust.

Was kann man gegen die Hölle des Rechtsradikalismus tun?

Ich weiß auch nicht mehr als was ich mein Leben lang tue: Ich schreibe. In der Hoffnung, damit etwas zu erreichen. Was moch verrückt macht: Hitler im Namen des Deutschen Volkes... Das war nicht Hitler, der 6 Millionen Juden und 20 Millionen Russen umgebracht hat. Das war meine Generation, mein Vater nicht, aber die Generation meiner Väter. Das war dieses Volk. Wenn jemand sagt: Ich habe die Gnade der späten Geburt, macht mich das atemlos vor Zorn.

Int.: K.W.

Donnerstag, 10.11., 20 Uhr, Bremer Rathaus: Gedenkveranstaltung zur Reichsprogromnacht.