■ Normalzeit
: Wimpernschläge und Kollektivverschuldung

Seit mehreren Monaten wandert eine Ausstellung mit dem Titel „Reden über Schulden“ durch die Foyers der 23 Berliner Bezirksämter. Ausgehend von Friedrichshain, wo auch die zwölftafelige Wandzeitung mit Geldern der Senatorin für Soziales und Personal von der Beratungsstelle für Überschuldete (DILAB e.V.) zusammengestellt wurde.

Anlaß ist die steigende Zahl von „Berliner Haushalten“, die hoffnungslos verschuldet sind, insgesamt über 100.000 bereits. Insbesondere im Osten der Stadt kann man bei 53.000 Menschen, die ihre Miete nicht mehr zahlen, und trotz individuellster Beratung schon (oder noch?) von einer Kollektivverschuldung sprechen.

Der Schuldenberg drückt die einzelnen Familien oder JunggesellInnen an den Rand des existentiellen Bankrotts (von „banca rotta“: die Sitzbank eines Geldverleihers zerschlagen). Ihr „Berg“ wuchs seit 1990 von 30.- auf 50.000 Mark je Haushalt. Die Ausstellung ist quasi eine Betreuungs-Vorfeld-Maßnahme für sie.

Da ich mich auch ständig am Rande des Überziehungskredits bewege und dabei immer wieder die nächste Monatsmiete von 650 Mark verdränge, waren mir die illustrierten Beratungsratschläge hochwillkommen: Man warnte darin vor den Verführern aus Werbung, Banken, Versicherungen und dem Versandhandel. Aber auch die mir ans Herz gewachsene Plastikkarte für den Geldautomaten bekam ihr Fett ab.

Krank machende Ängste und Gerichtsvollzieher

Auf weiteren Stelltafeln wurden krankmachende Ängste, Selbstmorde gar und Gerichtsvollzieher beziehungsweise Überschuldung in einen Zusammenhang gestellt und dazu Kredithaie, die Übernahme von Bürgschaften sowie Haustürgeschäfte und Partnerschaftsvermittlungen gegeißelt.

Der Zufall wollte es, daß ich nach dem Ausstellungsbesuch mit Widerstandsforscher H.D. Heilmann verabredet war. Als ich ihn zum Essen in ein Restaurant einlud, bekam ich von ihm vollkommen gratis eine 13. Schuldnerberatungstafel geliefert: Er gehe nie Essen und hasse diesen Amüsierpöbel, der allerorts auf den Gehsteigen diniere. Morgens zum Frühstück Haferflocken, dann im Archiv höchstens mal ein Glas Wasser, abends Nudeln oder Reis mit Gemüse, und nachts Tee, das waren seine wesentlichen Gaumenfreuden, verriet er mir.

Wie ich denn mein Geld verdiene, wollte er wissen. Am liebsten dadurch, daß ich mich in irgendwelche Widerstandsgeschichten reinhänge und dann darüber schreibe, die Sache damit forcierend. Das fand er soweit in Ordnung. Dazu habe es seinerzeit sogar einen Beschluß des SDS- Beirats (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) gegeben, den er mit unterschrieben habe. Er betraf den Gelderwerb von Raubdruckern, was als legitim angesehen wurde. Dann schimpfte er über seine Briefpartner, von denen jetzt mehr und mehr nicht mehr zu erreichen seien, weil sie im Urlaub wären. „Das mußt du dir mal vorstellen: Urlaub! So etwas haben wir früher immer aufs schärfste verurteilt.“

Er hatte recht: Abends vor der Bodega in der Wielandstraße oder sommers in einem mittelmeerischen Fischerdorf zu trinken und zu speisen – „die Seele baumeln zu lassen“, wie Dumpfmeister zu sagen pflegen – das galt damals als voll verwerflich. Auch hierbei griff nämlich noch der SDS-Beiratsbeschluß. Ich sage nur: „Kaffeeernte in Nicaragua“. Was meine Freundin, Vogel, mit ihrem Schwabentum entschuldigt, ihre Sparsamkeit auf Reisen, versuche ich mittlerweile mit einer Spießerekstase-Rechtfertigung, die früher absolut verpönt war, auszuhebeln: Wer hart arbeitet, darf sich im Urlaub (auf Kuba zum Beispiel!) auch mal was gönnen!

Lean reproduction und punktueller Luxus

Für gewöhnlich versuche ich jedoch auszubalancieren — zwischen genereller lean reproduction und punktuellem Luxus etwa. Und das selbstverständlich gekoppelt an gewerkschaftlich- spiralistischen Fortschritt, der sich für viele jetzt umdreht. „Bitte bedenken Sie, daß die Entfernung zwischen Gutsituiert- und In-Not-Sein häufig nur einen Wimpernschlag lang ist“, schreiben die Ausstellungsmacher, Diplompädagoge Zwegat und Schuldnerberaterin Sawall, in ihrem Geleitwort: Ein schiefes Bild für eine schiefe Ebene. Und spießerweit entfernt von SDS-Askese oder wenigstens Warenwunschlosigkeit. Helmut Höge

Wird fortgesetzt