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Eine Art Volkszählung hinter Gittern Von Andrea Böhm

Meinungsumfragen und Tabellen sind dubiose Informationsquellen. Mit nichts kann man so effektiv lügen und Schindluder treiben wie mit Zahlen. Also Vorsicht.

Aber mittendrein in das sorgsam gepflegte Mißtrauen gegen Demoskopen und Statistiker platzt dann plötzlich eine Studie, die einem den Atem verschlägt. Dabei handelte es sich nicht einmal um komplizierte Rechenaufgaben. Nein, das US-Justizministerium hatte sich lediglich die Mühe gemacht, die Gefängnisinsassen im Lande zu zählen — eine Art Volkszählung, nur eben hinter Gittern. Schlichte Addition. Heraus kam ein „historisches“ Ergebnis, das man je nach Standpunkt beeindruckend oder absurd finden kann: 1.012.851. Erstmals in der US-Geschichte sitzen über eine Million Menschen — genauer gesagt eine Million zwölftausendachthunderteinundfünfzig — in Gefängnissen des Bundes und der einzelnen Staaten. Plus rund 445.000 Insassen der lokalen Jails. Macht unterm Strich knapp 1,5 Millionen Männer und Frauen hinter schwedischen Gardinen. Damit hat sich die einzig verbliebene Supermacht auf der internationalen Rangliste wacker auf den zweiten Platz hinter der Nicht-mehr-Supermacht Rußland vorgearbeitet, wenn es um das Einsperren der eigenen Bürger geht.

Mehr Gefängnisse und härtere Strafen helfen gegen Kriminalität, sagen die Konservativen, was ungefähr so wahr ist wie die Behauptung, die Erde sei eine Scheibe. Das interessiert dieser Tage bloß keinen. Denn wer heutzutage den Bau einen neuen Knastes fordert, gilt als moderner Wyatt Earp. Wer das Geld lieber in Präventionsprogramme für Kids in den Ghettos anlegen möchte, ist ein liberaler Scheißer und Verschwender von Steuergeldern, der froh sein soll, wenn er nicht geteert und gefedert wird.

Natürlich sind Knäste teuer. Aber was soll's, den Sieg im Rüstungswettlauf gegen das „Reich des Bösen“ gab es auch nicht umsonst. Also wird der Staat, der nach Meinung vieler Amerikaner ansonsten überhaupt nicht mehr in Erscheinung treten sollte, ungeniert zur Kasse gebeten, wenn es um den Bau von mehr Gefängniszellen geht. 30 Milliarden Dollar haben der Bund, die Bundesstaaten und die Gemeinde- und Stadtverwaltungen im letzten Jahr für den Strafvollzug ausgegeben. Kalifornien hat zwar schon 58 Knäste, möchte aber dennoch 20 zusätzliche bauen. Der US-Bundesstaat Texas will laut Berichten der New York Times in den nächsten 18 Monaten jede Woche eine neue Strafanstalt eröffnen.

Halleluja, singt da die neue Boom-Branche — der kriminologisch-industrielle Komplex. Schauen wir mal, was die Corrections Today, die Fachzeitschrift für den modernen Strafvollzug so anbietet. Ihr Anzeigenaufkommen stieg in den letzten Jahren steil nach oben. Vom elektrisch geladenen Schlagstock, über die Nahkampfweste und den stählernen Toilettensitz (lebenslänglich rostfrei) bis zum neuesten elektronischen Überwachungssystem ist alles zu haben.

Für die Nachfrage ist langfristig gesorgt: US-Politiker, darunter der Präsident, tun das ihre, um durch neue Gesetze für einen ständigen Nachschub an Verurteilten zu sorgen. Es sind eben schlechte Zeiten für alle jene, die doch glauben, daß die Erde rund ist.

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