: Prinzessinnen und Professoren
Zwischen Madeleine, „originärem Wieder“ und „profondeur douloureuse“: Auf einem Symposium in Bonn versuchten drei Sorten Philosophen etwas zu finden, das noch nie da war ■ Von Ina Hartwig
Wer Mitglied der Marcel- Proust-Gesellschaft ist, einer bundesrepublikanischen Angleichung an Swanns Jockey Club, genießt auf einem Symposium wie dem gerade in Bonn zu Ende gegangenen über „Proust und die Philosophie“ gewisse Privilegien. Er wird zu einem Extraempfang und Diner geladen, vom Präsidenten des besagten Proust-Clubs, und darf sich an dem, was an Mondänität in der ehemaligen Hauptstadt überhaupt zustande gebracht werden kann, laben – zum Beispiel an einer echten Prinzessin.
„Mondänität“, definiert Julia Kristeva in ihrem brillanten Eröffnungsvortrag des Symposiums, sei „die Sorge um den Stil“. Doktor Igrek, dem ich gerne mein Ohr leihe, trat in die Proust-Gesellschaft ein, nachdem der Präsident derselben sich, in Nachahmung der Proustschen Totenfotografie, in seinem Kölner Bett für eine bekannte Wochenzeitung hatte fotografieren lassen. „Proust ist fasziniert vom Genuß des Stils“, erläutert Kristeva – und formuliert zugleich das Credo des Präsidenten Reiner Speck, der seinen Proustianern anläßlich des diesjährigen Symposiums ein herrliches zweiblättriges Faksimile aus seiner feinen Proust-Sammlung schenkte, einen Brief Prousts an Prinzessin Soutzo. „Prinzessin“, steht da in der schnörkellosen Handschrift des Snobs, „Sie können sich meine Verwirrung nicht vorstellen.“
Im offiziellen (wissenschaftlichen) Teil des Proust-Symposiums sollte Verwirrung allerdings keinen Platz haben; es ging um ihr Gegenteil, die Philosophie. Ursula Link-Heer und Volker Roloff, die Organisatoren, hatten zwölf Referenten in die Kunst- und Ausstellungshalle geladen, wo das geduldige Publikum drei Tage lang einen zum Teil beachtlichen Hahnenkampf der Professoren (die Professorinnen hielten sich zurück) verfolgen konnte.
Denn es waren in erster Linie die Referenten selbst, die sich nach den Vorträgen ihrer Kollegen zu Wort meldeten. Unterhaltsam! Als sich – im Anschluß an den einige Referenten wegen seines hohen Niveaus sichtbar einschüchternden Abschlußvortrag von Manfred Schneider – die verbliebenen Referenten am Sonntag mittag zur „Table ronde“ zusammensetzten, um über das etwas unglückliche Thema „Das multiple Ich“ zu debattieren, hatte nicht nur Doktor Igrek seine Zensuren längst verteilt, es hatte auch die Professorenschar ihr eigenes Soziogramm vor unseren Augen erstellt. Ohne es zu wissen natürlich, also ganz im Sinne Prousts.
Es gibt Philosophen, die mit Proust verglichen werden können; es gibt Philosophen, die zum philosophischen Gepäck Prousts gehören (sei es, daß er sie in seinem Werk erwähnt, sei es, daß er sie in seinem Philosophiestudium kennengelernt hatte); schließlich gibt es Philosophen, die Prousts berühmtes Gebäck, die Madeleine, zum Philosophieren heranziehen. Alle drei Stränge sollten nach dem Willen der Veranstalter behandelt werden. Im Vergleich mit dem letzten Proust-Symposium vor zwei Jahren („Schreiben ohne Ende“) fiel das diesjährige relativ unphilologisch aus. Immerhin konnten einige fällige eingefahrene Positionen der Rezeption korrigiert werden, etwa durch Kristevas Hinweis auf das „antipsychologische“ Moment bei Proust (gemeinhin gilt der Romancier als großer Psychologe) oder Bernhard Waldenfels' aus phänomenologischer Sicht vorgetragenen Einwand gegen die „Präsenzmetaphysik“ der „mémoire involontaire“ (unwillkürliche Erinnerung): Nicht etwas schon Gehabtes werde im Erlebnis der Madeleine oder des Pflastersteins wiedergefunden, sondern es handele sich um ein „originäres Wieder“: um das Finden von etwas, das noch nie da war.
Sie kann auch kratzbürstig auftreten; doch dieses Mal war Julia Kristeva ein charmanter Star, und es ist Link-Heer und Roloff zu danken, daß es ihnen gelang, sie nach Bonn zu locken. In ihrem Versuch, Prousts Zeitbegriff mit Heidegger zu lesen, stellte Kristeva fest, die „mémoire involontaire“ sei mit der Suche nach der verlorenen Zeit inkommensurabel, jedoch sei die Position des Wartens in Prousts „Recherche“ etwas Freudiges. Nur im Roman (nicht in anderen Künsten, auch nicht in der Philosophie) könne der Chiasmus, der zwischen subjektiver und meßbarer Zeit entstehe, inkorporiert werden; und damit, so Kristevas These, komme Prousts „Roman“ dem „Zeitraum“ des späten Heidegger nahe. Doktor Igrek war sehr angetan – von der Dame.
Gewisse Schwierigkeiten in puncto Konzentration hatte er mit einem Professor, der in einschläfernden Kadenzen sprach. Ich aber, beauftragt, aufzupassen, war brav – und hörte so hübsche Formulierungen wie diese: „Die Liebesbeziehungen bei Proust beginnen romantisch und enden moralistisch.“ Wie kann eine poetische Positivität aus einer negativen Anthropologie wie der Moralistik gewonnen werden? Ausgehend von Augustinus' Begriffspaar memoria und curiosita, Erinnerung und Neugier, interpretierte der Kadenzensprecher elegant, Proust mache die Erinnerung Albertines zum Abgrund seines Erzählers; und diesen Abgrund – Proust nennt ihn „profondeur douloureuse mais magique“ – müsse man moralistisch verstehen. Der Herr, der das sagte, heißt Rainer Warning.
Ebenfalls mit Augustinus, jedoch nicht unter Hinzuziehung der Moralisten, sondern Kants und der Kinotheorie, argumentierte Manfred Schneider in seinem Vortrag über „Proust und die Theorie des Erhabenen“. Obwohl Proust, der Kant relativ gut kannte, den Königsberger Philosophen in der „Recherche“ ausschließlich ironisch erwähne, sei die Erzählerwahrnehmung dem Kantischen – zweiphasigen – Erhabenen verpflichtet. Wie das Erhabene bei Kant, das, im Unterschied zum Schönen, zunächst eine Hemmung hervorrufe, um sich dann um so heftiger zu ergießen, weise die Wahrnehmung des Proustschen Erzählers grundsätzlich zunächst ein Versagen der Sinne auf, das dann in die – beglückende – Erkenntnis münde, alles befinde sich im eigenen Inneren.
Daß der Beschluß bzw. die Bestimmung des Erzählers am Ende des Romans, einen Roman zu schreiben (die „Bestimmung“ analogisiert Schneider mit der „Bekehrung“ Augustins), mit genau dieser Erkenntnis einhergeht, dieses Ereignis nennt Schneider die „Kantische Revolution in Marcels Leben“. Doch damit sei das narrative Problem – die Glückserfahrung der „reinen Zeit“ auf der einen und einen kinematographischen, an sukzessive Bilderfolgen gebundenen Zeitbegriff auf der anderen Seite, miteinander zu verbinden – nicht gelöst. Im Unterschied zu Julia Kristeva, die diese Lösung im Proustschen „Roman“ ja zu sehen meint, bestreitet Schneider sie.
Doktor Igrek ist froh, daß er bis zum Schluß geblieben ist. Doch nächstesmal, flüstert er, als wir uns am Bahnhof verabschieden, sollte das Symposium „Proust und das Komische“ heißen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen