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■ Anläßlich des 5. Jahrestages des 9. November: Ein sensationeller Brief aus der ehemaligen Stasi-ChefetageLieber Freund,

Genosse, Tschekist, Schildknappe bzw. Schwertträger der Partei oder weiß der Teufel, welche Art von nostalgischer Anrede Dir am meisten zusagt: Du weißt, wie sehr mir diese Jahrestage immer auf den Geist gegangen sind. Diese Großeinsätze, die einen an der Detailarbeit hinderten. Diese nervtötenden, immergleichen Jeremiaden des Chefs, wir müßten gegenüber den Umtrieben des Imperialismus die Wachsamkeit verstärken etc. Aber dieser 5. Jahrestag des 9. November ist es wirklich wert, unsere leider sporadisch gewordene Korrespondenz neu zu beleben. Bei aller Zurückhaltung, die wir uns, diszipliniert, wie wir sind, auferlegen: Das war damals eine reife Leistung, nicht zuletzt unter professionellen Gesichtspunkten.

Zugegeben – Dir, der Du jetzt mit so viel Umsicht den Werkschutz von Siemens reorganisierst (eine Firma übrigens, von deren Planungstechniken und Propagandaarbeit wir uns eine dicke Scheibe hätten abschneiden können), mögen die damaligen „Ereignisse“ weit entfernt, fast unwirklich erscheinen. Aber die Woche vom 4. bis zum 10. November, waren das nicht, um John Reed, den alten Schwätzer, zu zitieren, sieben Tage, die die (unsere) Welt erschütterten?

Fast wäre die ganze Operation, nachdem sie sich so gut angelassen hatte, im letzten Augenblick schiefgelaufen. Zur Großdemonstration am 4. November war in Berlin von den richtigen Leuten das richtige Stichwort ausgegeben worden: demokratische Rechte und Freiheiten auf dem Boden eines radikal erneuerten Sozialismus! Wahrhaftig, ein Festival produktiver Mißverständnisse: Jens Reich und unser Mischa, vereint unter dem Banner des dritten Weges! Mit dieser machtvollen Manifestation unserer hauptstädtischen Intellektuellen, die sich in der progressiv-feudalen Parole „Es muß sich alles ändern, damit alles bleibt, wie es ist“ zusammenfassen ließ, hätten wir den Leipziger und sonstigen provinziellen Schreihälsen wirklich das Maul stopfen können. Da aber beschließt ein aus den Fugen geratenes, aller Prinzipien bares Zentralkomitee, daß ausreisen kann, wer will. Irgendein Diversant, Krenz, wenn ich mich recht erinnere, drückt dem Schabowski auch noch ein Zettelchen in die Hand, damit er der Westjournaille die frohe Botschaft verkünden kann. Gott, falls es ihn doch geben sollte, sei Dank, gelingt es mir, den aufgeblasenen Schwachkopf noch im letzten Moment vom Mikrophon zu stoßen und meinen sensationellen Coup zu landen: Es spricht zu Ihnen, in den heiligen Hallen des ZK, Bärbel Bohley!

Ich habe Dir nie erzählt, welche Mühe es mich gekostet hat, diese renitente Person dazu zu bringen, die praktische Konsequenz aus ihren Überzeugungen zu ziehen. Wie, stellte ich ihr vor, wollen Sie zu der freien Gesellschaft freier DDR-Bürger kommen, wenn niemand übrigbleibt, sie zu verwirklichen? Lautet die Alternative jetzt nicht ein Ausreisegesetz, das das individuelle Genehmigungsverfahren aufrechterhält, oder der Zusammenbruch jenes Gemeinwesens, das erstmals in der deutschen Geschichte usw., Du kennst das ja. „Menschen, die sich in Bewegung gesetzt haben, wird niemand aufhalten“, lautet ihre impertinente Antwort. Aber irgendwann dämmert es diesem verstockten Element, daß jetzt gehandelt werden muß. Keine Übereinkunft, kein „Deal“, sie lehnt sogar den Wagen mit Blaulicht ab. Also hasten wir zu Fuß zur Zentrale, treffen im letzten Augenblick ein und retten die DDR:

Die Folgekosten von Frau Bohleys nächtlichem Appell, „Bleibe im Lande und wehre dich redlich“, waren allerdings beträchtlich. Am leichtesten war noch der Abgang des Chefs zu verschmerzen, den wir auf Nimmerwiedersehen in die Iljuschin Richtung Pjöngjang schoben. Er schien irgendwie weggetreten, murmelte ständig sein idiotisches Liebesbekenntnis. Die Firma in „Amt für nationale Sicherheit“ umzubenennen, kostete ebenso wenig. Dann aber die Überprüfungskommissionen, die wir schlucken mußten, die Überstellung des gesamten Aktenbestandes an ein selbsternanntes Bürgerkomitee! Es war Deinem Ingenium zu danken, daß wir Konsistorialrat Stolpe und Gysi, diesen eloquenten Ehrgeizling, der damals nach vorne drängte, an die Spitze dieser „Aktionsgruppe für die Sicherung der Informationen“ (ASI) bugsierten. „Sekretär“ und „Notar“ – ein wahrhaft deutsches Tandem! Den Slogan vom „dicken Schlußstrich“, der dann ab 1990 den allgemeinen Versöhnungskitsch einleitete, haben die beiden doch tatsächlich selbst erfunden (und nicht von den Polen übernommen, wie General Kiszczak in seinen Memoiren kürzlich behauptete).

Schließlich erwachte auch das ZK wieder aus seiner Lähmung. Damals verschwieg ich Dir, daß ich es war, der diesen Erzrevisionisten Achille Occhetto einflog. Er machte den glänzenden Vorschlag, unsere SED solle einfach den neuen Namen der italienischen Bruderpartei übernehmen, da der im Milieu der europäischen „demokratischen Sozialisten“ bereits bestens eingeführt sei. So geschah's. Nur das Emblem der Spaghettis wiesen unsere Genossen zurück. Dabei wäre die Eiche samt Wurzeln schon vom Gesichtspunkt der nationalen Aktionseinheit her von Nutzen gewesen.

Aufgerichtet von den Beschlüssen des ZK, ergriff unser Hans, der neue Partei- und Regierungschef, Initiativen von wahrhaft historischer Tragweite. Du erinnerst Dich, daß wir bereits 1988 im Kollegium die Konföderation mit der BRD als mögliche Variante ins Spiel gebracht hatten. „Wer wäre sonst so bescheuert“, sagtest Du damals, „unsere 28 Milliarden Auslandsschulden zu übernehmen?“ Genosse Modrow lancierte also seinen 10-Punkte-Konföderationsvorschlag, ehe Teltschik am Rhein seine völlig überforderten Experten auch nur zusammentrommeln konnte. Modrows zweiter Streich – die Koalitionsregierung. Aus schierer Gewohnheit schlossen sich die Parteien der Nationalen Front auch diesmal unserer Direktive an: Sie wurden selbständig, auf antifaschistisch-demokratischer Grundlage, und traten wieder ins Kabinett ein. Auch die Einbindung der Bürgerbewegten in die Regierungsverantwortung, um mich der westdeutschen new speech zu bedienen, gestaltete sich problemlos. Unsere Aufrechten wurden einfach in ihrer Eigenschaft als Individuen Minister. Wem hätten sie auch verantwortlich sein sollen? Für den Erfolg dieses waghalsigen Manövers steuerte unsere Firma ihren bescheidenen Anteil bei. Wer hätte gedacht, daß „Thorsten“ alias Wolfgang Schnur, unter Modrow Innenminister, nach den Märzwahlen zum Premier der fortgeführten Koalition aufsteigen würde? Und daß niemand anderes als „Maximilian“, unser kleiner, anlehnungsbedürftiger Ibrahim, der Abgott der linken Intelligenzler in Ost und West, zum Chef der Konföderationsdelegation reüssieren würde. Ein Posten, den er hoffentlich noch lange bekleiden wird!

Aber, lieber Freund, wären wir Materialisten gewesen, wenn wir neben diesen wohlberechneten Manövern im Überbau die Basis vernachlässigt hätten? Das neue Reisegesetz sah befristete, aber leicht zu verlängernde Aufenthaltsgenehmigungen im Gebiet unseres neuen Konföderationspartners vor. Daß das Gros unserer Erwerbstouristen in Westdeutschland zu Sondertarifen arbeitete, rief leider nicht nur die versprengten Linksradikalen auf den Plan, sondern erregte auch den Mißmut trade-unionistisch beschränkter Kräfte innerhalb der dortigen Arbeiterklasse. Dabei war das ein Arrangement, das beiden Seiten zugute kam! Daß allerdings am 22. August 1992 eine entfesselte Meute in Hamburg-Harburg Beifall klatschte, als Molotowcocktails in ein von DDR-Bürgern bewohntes Heim geschleudert wurden, war des Guten etwas zuviel.

Der Devisentransfer lockerte unsere innere Verspannung, der große Kredit aus dem Westen, an dessen Zustandekommen, wie Du weißt, ich, der in vielfachen Verhandlungen Gestählte, an vorderster Front beteiligt war, verschaffte uns sogar ein paar Zentimeter Bewegungsfreiheit. Aber nicht diese Spritzen und Klistiere haben uns über den Berg gebracht. Den Ausschlag gab die Verwirklichung der Parole „Sozialisiert den Sozialismus!“. Seitdem wir betriebliche Selbstverwaltung und Gruppeneigentum an Produktionsmitteln eingeführt haben, krallen sich unsere Werktätigen an ihren Betrieben fest. Unablässig sind sie damit beschäftigt, Rationalisierungsmaßnahmen durchzuführen, überflüssige Arbeitskräfte zu entlassen, heroisch Lohnverzicht zu üben – alles mit dem Ziel, endlich doch das Weltniveau zu erklimmen und auf den Märkten des Klassenfeinds zu bestehen.

Mag auch Dein Salair das meine um ein Vielfaches übersteigen: um wieviel ärmer als ich bist Du an denkwürdigen Begegnungen und überraschenden Konstellationen! Gestern abend war ich im Memorialkonzert, das Wolf Biermann und Gisela May, die beiden hochverehrten Volkskünstler der DDR, zusammen gaben. Und jetzt bereite ich mich auf den Empfang vor, den wir der westdeutschen Studiengruppe „Demokratischer Sozialismus und kapitalistischer Weltmarkt“ unter der Leitung von Herrn Professor Altvater geben.

In der Hoffnung, daß das Heimweh Dich verzehre, und mit herzlichsten Kampfesgrüßen

Dein Alexander, oder „Schneewittchen“, falls Du das heutzutage lieber hörst

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