: Die Illusionen der Bürgerbewegung
■ Fünf Jahre nach dem Fall der Mauer zieht die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley ein Resümee: Die Maueröffnung beendete den angelaufenen Emanzipationsprozeß / Es gab keine organisierte Opposition in der DDR
taz: War die Öffnung der Mauer Teil der friedlichen Revolution von 1989?
Bärbel Bohley: Für mich hat sie nicht dazugehört. Wir wollten Reisefreiheit haben. Eigentlich hieß das offene Mauer, aber wir haben so sehr in Blöcken gedacht, daß der Fall der Mauer einfach nicht vorstellbar war. Soweit hat in ganz Deutschland niemand gedacht.
Sie haben seinerzeit gesagt, die Maueröffnung komme zu früh.
Ich habe mein ganzes Leben in der DDR verbracht und kenne die Menschen ziemlich gut. Wir alle haben eine Art Verformung erlebt, die in ihrem Ausmaß allmählich erst bewußt wird. 1989 war eine Stimmung des Aufbruchs. Wir wollten alle raus aus diesem Mief, aus dieser Stagnation. Mir war sehr schnell klar, daß mit der Maueröffnung dieser Emanzipationsprozeß erstmal beendet ist.
Was hätte einer Maueröffnung vorausgehen müssen?
Wir hätten erstmal darüber nachdenken müssen, was wir eigentlich wollen. Das wäre ein gehöriges Stück Aufräumarbeit gewesen.
Womit wollten Sie aufräumen?
Mit dem eigenen Stall. Wir sind doch wie eine Hammelherde raus und haben den Hirten des Nachbarstalls gebeten, bei uns auszumisten. Das hätten wir besser selber gemacht. Dann hätten wir womöglich auch keine Treuhand gebraucht, sondern selber überlegt, wie wir mit dem Kapital umgehen, daß wir in vierzig Jahren erarbeitet haben.
Was hätten Sie anders gemacht?
Die hehren Worte auf dem Papier mit Leben erfüllt. Völkerfreundschaft, Solidarität, die allseitig entwickelte Persönlichkeit, diese Begriffe gab es, aber sie waren leer.
Sie wollten sozialistische Ideale verwirklichen?
Ja. Uns war allen klar, daß das, was in der DDR propagiert wurde, kein Sozialismus war.
Wie haben Sie sich die Umsetzung vorgestellt?
Die Leute sollten sich selber organisieren, ihre Belange in die eigenen Hände nehmen und dafür die Verantwortung tragen. In der DDR wußte jeder um die Macken des Systems, doch niemand konnte sich mit seinen Ideen der Verbesserung einbringen. Es kam darauf an, dieses Potential zu nutzen.
War der Runde Tisch die Umsetzung dieses Anspruchs?
Ja, aber er wurde nicht konsequent genug genutzt. Das Verhältnis an diesem Tisch war sehr schief. Einem Drittel Erneuerer saßen zwei Drittel Vertreter des alten Systems gegenüber.
Weil beide Seiten aufeinander angewiesen waren?
Ja, denn eines der wichtigsten Ziele war der friedliche Verlauf der Revolution.
Dabei hat die Bürgerbewegung vergessen, die Machtfrage zu stellen.
Ja. Es war aber auch schwierig. Das Neue Forum war die einzige Organisation, die aus dem Nichts entstanden war und von niemanden unterstützt wurde. Die SED/ PDS hatte ihre alte Struktur, SPD und CDU wurden von drüben unterstützt.
Gab es Überlegungen, Ministerien zu übernehmen?
Das klang immer mal wieder an, aber die Leute hatten Angst davor. Einige sagten sich auch: Die haben den Mist eingebrockt, nun sollen sie damit fertig werden, wir behalten uns die Kontrolle vor.
Die Revolution wäre auf halbem Wege stehengeblieben.
Wahrscheinlich.
War das der entscheidende Fehler der Bürgerbewegung?
Ja. Man kann das nur damit erklären, daß wir so ein kleines Häuflein waren. Selbst die Leute, die das Neue Forum gegründet haben, kannten sich bis zum September 1989 nicht. Es gab keine organisierte Opposition in der DDR. Es gab kleine Grüppchen und keinen übergreifenden Diskurs. Die Bürgerbewegung hatte viele Illusionen, aber kein Konzept für das ganze Land. Die Runden Tische sind aus der Überraschung heraus entstanden. Hätten sie länger bestanden, wären wir wieder in die Enge getrieben worden, zumal das öffentliche Interesse erlahmt wäre.
Hat der Fall der Mauer verhindert, daß aus der Revolution Restauration wurde?
Die Restauration hat es trotzdem gegeben. Die alten Eliten sind doch auch heute noch vorhanden.
In ihren alten Funktionen?
Im wesentlichen ja. Es fand lediglich ein Generationswechsel statt. Die ganz Alten aus dem Politbüro sind gegangen. Aber das Fußvolk, das aus der alten politischen Klasse kommt, schwimmt jetzt oben. Es gibt doch kaum einen, der von außen kommt und bestimmende Funktionen eingenommen hat. Hätte es die Vereinigung nicht gegeben, wären diese Verhältnisse noch offensichtlicher. Die Öffnung der Mauer hat die politische Klasse im Osten nicht ausgewechselt.
Sind Sie auch heute noch der Auffassung, daß diese Öffnung verfrüht war?
Ich bezweifle, daß eine längere Übergangszeit wesentlich andere Ergebnisse gebracht hätte. Interview: Dieter Rulff
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