■ Linsen Soufflé
: Die Kamera, das unbekannte Wesen

Mit Filmkameras werden schon seltsame Dinge angestellt. Die Szene zum Beispiel, in der Malcolm McDowell in „Clockwork Orange“ einen Selbstmordversuch unternimmt, wurde gedreht, indem man eine Newman-Sinclair-Kamera einfach vom Dach eines Gebäudes herunterwarf. Beim sechsten Versuch machte die Kamera es richtig und landete wie gewünscht am Boden. Das Objektiv war natürlich hinüber, doch die Kamera an sich war vollkommen in Ordnung. In seinem nächsten Film zerstörte Regisseur Stanley Kubrick kein Objektiv, aber er bemühte die Nasa, um ein ganz besonderes zu bekommen. Kubricks Kameramann John Alcott benutzte für „Barry Lyndon“ ein Objektiv, das für US-amerikanische Weltraumprogramme entwickelt worden war. Das magische Auge wurde auf eine speziell veränderte Kamera geschraubt und machte es möglich, Innenaufnahmen bei Kerzenlicht zu drehen. Damit wurde „Barry Lyndon“ der Film mit der größten Blende (f 0,7), mit der jemals bei der Produktion eines Spielfilms gearbeitet wurde. Wenn mehrere Kameras gleichzeitig eingesetzt werden, wird der Zuschauer verarscht. Ihm wird vorgegaukelt, daß er mehr sieht als das, was tatsächlich auf der Leinwand passiert. Jan De Bont und sein Asphalt fressender Bus in „Speed“ haben gerade wieder gezeigt, wie's gemacht wird. De Bont setzte bis zu 12 Kameras gleichzeitig ein. Das ist nicht viel. Für „Lethal Weapon 3“ benutzte er einmal 28. Das ist immer noch nicht viel. Die größte Anzahl von Kameras, die für eine einzelne Szene eingesetzt wurden, war 48 – für die Seeschlacht in „Ben Hur“ (die Stummfilmversion aus dem Jahre 1925). Weitere 42 Kameras dirigierte Regisseur Fred Niblo, um das Wagenrennen zu drehen. Der erste, der zum Drehen einer Szene mehr als eine Kamera einsetzte, war der große D.W. Griffith. Er benutzte 1914 drei Kameras, um den Kampf zwischen Dorothy West und Mabel Normand in „Die Liebe einer Squaw“ zu filmen. Übrigens verwendete man in den Stummfilmtagen Hollywoods nicht nur für spezielle Szenen mehrere Kameras. Fast alle Spielfilme wurden mit zwei Kameras gedreht; eine lieferte das Orginalnegativ, von dem alle Kopien für den heimischen Markt gezogen wurden, die andere das Negativ für alle Überseekopien. Doch nicht nur in Hollywood wurden mehrere Kameras gleichzeitig eingesetzt. Für „Ein Tag des Krieges“ wurden 1943 in der UdSSR 160 (!) Kameras gebraucht. Die Dokumentation wurde an einem einzigen Tag, dem 13. Juni 1943, von 160 Wochenschau-Kameramännern an der russischen Front, hinter den Linien und in Rüstungsbetrieben gedreht. Wer nun aber glaubt, eine Kamera sei ein unverzichtbares Werkzeug, um einen Film auf die Leinwand zu bringen, der ist schwer auf dem Holzweg. Es gibt einen Film, der ganz ohne Kameras hergestellt wurde. Es ist die 75minütige Ein- Mann-Animationsproduktion in Cinemascope des spanischen Künstlers José Antonio Sistiaga: „Ere Ereve Baleibu Icik Subua Arvaren“. Für den in 17 Monaten – von Oktober 1968 bis Februar 1970 – fertiggestellten Film malte Sistiaga persönlich jedes Bild separat direkt auf das Filmmaterial. Karl Wegmann