■ Symbol Oberbaumbrücke
: Der Riß bleibt

Die Brücke ist geschlossen, der Riß bleibt. Die Symbolik des 9.November 1989 wird bemüht, um einen Brückenschlag zu feiern, bei dem doch nur die Hoffnungen der Menschen auf eine Verbindung von Ost nach West mißbraucht werden – für den Startschuß in den täglichen Autowahn. Gefeiert wurde nicht der mauersprengende Bürgermut vor fünf Jahren. Gestern feierten sich jene selbst, die eine unsinnige und stadtzerstörende Politik des automobilen Vorrangs exekutierten.

Der wütende Ausfall des Regierenden Bürgermeisters Diepgen gegenüber der Minderheit, von der man sich nicht beeindrucken lassen werde, atmete den Gestus der arroganten Macht. Diese hochmütige Ignoranz ist an diesem Ort, zu diesem Datum beschämend. Ebenso beschämend wie ein Polizeieinsatz, der sich nicht damit aufhielt, Straftaten zu verhindern, sondern bereits den Versuch der Meinungsäußerung mittels Transparenten als strafwürdig betrachtete. Das kann nur Verbitterung hervorrufen. An der Oberbaumbrücke ist deshalb gestern kein neues Kapitel der zusammenwachsenden Stadt aufgeschlagen worden. Berlin hatte mit dem Mauerfall die Chance, bei der Beseitigung der Brachen des Kalten Kriegs und der Neugestaltung des Zentrums neue (Verkehrs-)Wege zu gehen. Statt dessen aber wurden die anderenorts längst bereuten Fehler einer autogerechten Stadtausrichtung wiederholt.

Die Empörung über diese Ignoranz ist verständlich. Aber die Ignoranz allein erklärt nicht die Verbitterung jener, die gegen die Brückenöffnung demonstrierten. Mit der Öffnung für den Autoverkehr ist auch die Ära einer freien Republik Kreuzberg Geschichte geworden. Die Bewohner des Soziobiotops, das sich im Windschatten der Mauer entwickeln konnte, standen mit dem Grenzfall plötzlich im Durchzug. Seitdem sind viele Gewißheiten verweht. Und auch die massenhafte Produktion von Ideologien kann nicht das Wissen verdrängen, daß Mietspekulation und Luxussanierung nicht für alle Probleme in Kreuzberg 36 verantwortlich sind. Die alten Zeiten sind vorbei. Im härter gewordenen Licht haben sich die Ideale einer toleranten Vielfalt in den letzten Jahren allzuoft als feiges und interesseloses Nebeneinander erwiesen. Der grüne Mittelstand mit dem Wunsch nach sauberen Schulen für die Kinder und netten Restaurants steht längst konfrontativ gegen den Klassenstandpunkt der autonomen Propheten von einer Verelendung. Kreuzberg 36 mit seiner einmaligen Mischung muß deshalb seine Rolle in einem neuen Berlin erst noch finden. Diese Besinnung und Neuorientierung aber wäre auch ohne die Öffnung der Oberbaumbrücke unausweichlich geworden. Mit dem Kampf gegen den Autowahn hat mancher diese Tatsachen verdrängt. Gerd Nowakowski