„Ich sitz dann auf Wolke 7“

■ Auf der Kinder-Tumorstation wird nicht nur geweint / „Sterben in Bremen“, Teil 7

„Weißt du, wie der chinesische Verkehrsminister heißt“, fragt Stefan (14) und läßt die Beine über der Bettkante baumeln. Sozialpädagogin Sabine Renner schüttet sich schon jetzt aus vor Lachen. „Na, ist doch klar“ sagt Stefan, „Om Lai Tung! Und weißt du, wie der chinesische Sexminister heißt?“ Sabine Renner weiß es nicht, Stefan hat's aber auch vergessen. Also machen sie kichernd erstmal weiter mit dem Scrabblespiel. Auf Station 5 der Hess-Kinderklinik St.Jürgen-Straße, wo jeweils elf tumorkranke Kinder liegen, wird beileibe nicht nur gestorben und geweint – heute haben immerhin 80 Prozent der Leukämiekranken eine Heilungschance. „Außerdem lassen sich Kinder viel leichter ablenken als Erwachsene“, sagt Stationspsychologin Marie-Theres Schöning, die Zweite im Team für psychosoziale Betreuung. Ablenken zum Beispiel mit Fischstäbchen und Spaghetti. Zur Not können die Eltern diese Speisen morgens, mittags, abends in der Stationsküche kochen.

Die Kinder fordern Ablenkung auch selbst ein: „Du sollst jetzt nicht den Finger in die Wunde legen“, sagt das Mädchen zur Psychologin, als die die Krankheit ansprechen will, „du sollst mich ablenken, das ist schließlich dein Job“. Wenn die Kinder nicht ganz besoffen sind von den einschläfernden Medikamenten gegen die Übelkeit, schiebt Sabine Renner die Betten zusammen und baut ein „Malefiz“-Spiel auf. „Vier gewinnt“ kann man sogar im Liegen spielen. Besonders beliebt: Perlenketten aufziehen. Das verschafft schnelle Erfolgserlebnisse – schließlich leiden die Kinder darunter, daß sie auf einmal nur noch so wenig können. Vor allem aber haben sie dann was zu verschenken. Ein türkisches Mädchen, das nur noch liegen konnte, bastelte so einen richtigen Nachlaß für sämtliche Verwandten.

Während drei Mädchen Perlen aufziehen, liegt im Nebenzimmer ein kahler Vierjähriger im Gitterbett und ratzt über den entzündeten Mund und die Übelkeit hinweg – alles Folgen der Chemotherapie. „Kitteldienst“, steht an der Zimmertür. Der Junge ist so geschwächt, daß BesucherInnen sich erstmal die Hände desinfizieren und einen keimfreien Kittel anziehen müssen. Seine Mutter entspannt sich derweil beim Fernsehen in einem der Elternzimmer, die die Elterninitiative finanziert hat.

Manchmal wollen auch die Kinder allein sein. „Ich will fernsehen“, sagen sie und schicken die Sozialpädagogin wieder fort. Dabei wollen sie gar nicht fernsehen, sondern in Ruhe gelassen werden. „Die Angst, die Auseinandersetzung mit dem Tod kommen in Schüben, vor allem nachts“, sagt Marie-Theres Schöning. Manchmal, wenn ein chronisch krankes Kind aus langem Schlaf erwache, habe es diese „großen wissenden Augen – da hab' ich das Gefühl, das ist kein Kind mehr, das ist ein wissender Alter“.

Marie-Theres Schöning lügt den Kindern nichts vor, spricht aber selbst das Thema Tod nicht direkt an, sondern auf einer symbolischen Ebene. „Ich laß mich dabei vom Kind führen.“ Das eine zum Beispiel greift immer nach den „Brüdern Löwenherz“ und besteht darauf, daß das Buch bis zur Rücckehr ins Elternhaus, wo es wohl sterben wird, zu Ende vorgelesen wird – und seien das zwei Stunden am Stück. „Da kann man natürlich nicht fragen, geht es dir auch so wie dem einen Bruder.“ Das Signal ist eindeutig genug.

„Ich stell' mir das schrecklich vor, im Sarg zu liegen“, sagt dagegen ein Mädchen in aller Kraßheit. „Stell die doch lieber vor, du bist wie eine Raupe im Kokon, irgendwann wirst du zu einem wunderschönen, leichten Schmetterling“, bietet ihr Marie-Theres Schöning an. „Ach ja, das gefällt mir besser, danke“, sagt das Kind, das ein sehr höfliches ist. Schöning versucht, die Vorstellungen vom Tod in eine positive Richtung zu lenken. Kleinere Kinder haben vom Sterben vor allem die Vorstellung eines Ortswechsels. „Ich sitz' dann auf Wolke sieben“, sagt ein Kind und phantasiert sich zusammen mit der Psychologin als Schutzengel für andere Kinder.

Manchmal ist das sterbende Kind schon weiter als die Eltern. Die klammern sich noch an jeden Strohhalm. Außenstehende sagen dann leicht: „Die lassen das Kind nicht los.“ Doch die Psychologin Schöning respektiert solche Ungleichzeitigkeiten. Leistungsdruck soll nicht auch noch auf dem Sterben lasten. Vielleicht stirbt das Kind dann eben, wenn die Mutter gerade draußen ist, weil es so leichter gehen kann. Auch Kinder, denen die Eltern die Wahrheit vorenthalten haben, „sterben nicht unbedingt schlechter“. Am wichtigsten sei schließlich, daß die Eltern in Beziehung mit dem Kind bleiben. Auch wenn sie den Tod leugnen. Denn nichts sei schlimmer, als den sozialen Tod zu sterben vor dem körperlichen Tod.

„Ich nehme sicher viel mit von dieser Arbeit, aber manchmal bin ich abends auch ganz schön geschafft“, sagt die Psychologin. Da platzt einem Kind überraschend der Tumor, es kommt in Atemnot und Panik, weil die Lunge „vollsitzt“ – „manche Krankheitsverläufe sind eben nicht bereichernd, sondern für alle Beteiligten nur schlimm“, sagt Schöning und widerspricht damit vehement einem Bild vom Sterben, das vor allem von manch SterbebegleiterInnen verbreitet wird.

Christine Holch