Im Innern des Klanges

■ Das „Bremer Podium“ begab sich auf die Spur des rätselhaften Komponisten Scelsi

Beim Bremer Podium ist es gute Sitte, einen Komponisten oder eine Komponistin zu einem Gespräch einzuladen, das vor dem abendlichen Konzert stattfindet. Diesesmal war die Wahl bei auf den Italiener Giacinto Scelsi gefallen, der noch immer eine sozusagen neue, auch umstrittene, Persönlichkeit ist: 1905 geboren, 1988 gestorben, wurde er erst im Alter von über siebzig Jahren bekannt. Und unmittelbar nach seinem Tod rückte der drittrangige Komponist Vieri Tosatti mit der Bombe heraus: „Giacinto Scelsi: c'est moi“. Er habe nach den dürftigen Improvisationen des Grafen aus Spezia die Stücke schreiben müssen. Tatsächlich hat Scelsi keine Note selbst geschrieben, und es sollen in seiner römischen Villa noch Unmengen mit der Ondioline, einem „scheußlichen Stimminstrument mit Vierteltönen“ bespielter Tonbändern in „elender technischer Verfassung“ liegen. Kaum zu glauben, daß einen vor sechs Jahren verstorbenen Komponisten noch so viel Rätsel umgeben können.

Grund genug, für Marita Emigholz von Radio Bremen in diesem Podium andere Wege zu gehen: Sie präsentierte im Konzert den Film „Casa Scelsi“ von Fred van der Kooij, der zusammen mit Manfred Reichert vom Ensemble 13 eine ganz anderartige Konzertgestaltung versuchte. Scelsis Werke wurden durch einen Text des Scelsiverehrers Henri Michaux verbunden, knallig gesprochen von einer Kinderstimme. Da der Text „Ich schreibe Dir aus einem fernen Land“ von 1937 selbstverständlich eine eigene Stärke hat, war diese Idee weniger ein Angebot als eine viel zu dominante Festlegung für das Publikum.

Fred van der Kooij ist zunächst einmal ein Musikfilm zu bescheinigen, der erstens eine stringente Idee durchführt und zweitens ein hohes musikalisches Verständnis nachweisen kann. In einer alten Villa gedreht, folgen wir – wenn Plüschdecken sich bewegen und blaue Ohren zerschmelzen – seltsamen Bildern surrealistischer Art, in dem das Interview Vieri Tosatti durch dessen ironische Ausbrüche („er klimperte so ein bißchen auf den Tasten“) wohl ein einmaliges Dokument sein dürfte. Die Bilder des Films verselbständigen sich jedoch, und durch die montageartige Unterlegung kleiner Teile aus Scelsis Werken wird seine Musik nicht nur rein illustrativ, sondern auch das Gegenteil von dem, was Scelsi einzig intendierte: die Suche nach dem Innern des Klanges.

Die kompositorische Umsetzung mit ihren ungewöhnlichen Strichtechniken, ihren Mikrointervallen, ihren wellenartigen Bewegungen lag beim Freiburger Pellegrini-Quartett und Mitgliedern des Ensembles 13 in allerbesten Händen. Die Streichquartette Nr. vier und fünf, Werke wie u.a. „Xnoybis“ für Violine und „Okonagon“ für Harfe, Kontrabaß, Tamtam und Schlagzeug: Wiedergaben von überragender technischer und einfühlender Qualität, Wiedergaben, die jeden aufgesetzten Anstrich vermieden und mit unglaublicher Seriosität zum Kern eines Werkes vordrangen, das in der Musik dieses Jahrhunderts einzigartig dasteht. Geheimnisvoll und fremdartig höhlt es wieder und wieder die vertikale Tiefe von Klang und Ton aus: Medium wollte Scelsi sein, nicht Komponist. Was wirklich war, wird man erst 2030 wissen: Bis dahin ist seine Autobiographie auf Tonband gesperrt.

Ute Schalz-Laurenze