Niemandsland

■ Absurd, aber dann doch nicht genug: "Typologie - Bebra", ein neues Stück aus Matthias Wittekindts Brüssel-Projekt

Bebra war vor dem Krieg eine wichtige Umsteigestation. Das weiß heute kaum noch jemand, der ICE braust einfach dran vorbei. Trotzdem ist der Name des Kaffs mit dem überdimensionierten Bahnhof ein leicht mythisches Synonym für Eisenbahn in ihrer altmodischen Form geblieben.

Als Typologie will Matthias Wittekindt denn auch den Titel seines gleichnamigen Stückes verstanden wissen. Für den Anschluß ans Nirgendwo steht Bebra, im Niemandsland zwischen Ost und West, ein Nicht-Ort wie Kafkas Schloß. In Bebra ist ein Frauenmord geschehen, im Eisenbahnabteil. Eine Vernehmung findet statt, auf der einen Seite der potentielle Mörder, vier Repräsentanten der Macht auf der anderen. Um diese Situation geht es, nicht um die Tat. Herr Wolf sitzt auf der Anklagebank. Die Oberverhörerin heißt Frau Schwarz, ihre AssistentInnen Fräulein Weiß, Herr Keil und Herr Nordhausen. Nomen est omen mit dem Holzhammer. Gemütlich wie DDR-Schnaps ist die Atmosphäre beim Frage- und Antwortspiel, nur Herr Keil (!) benimmt sich gelegentlich etwas daneben. Farblos sind die auf ihre bloße Funktion reduzierten Figuren, austauschbare Sprechmaschinen. Der Beschuldigte könnte der im Schafspelz sein oder auch etwas mit dem Oberspion Ost zu tun haben. Beide Fährten stimmen, und dann auch wieder nicht. Ein klassischer Waschlappen ist dieser Herr Wolf, ein bißchen unterwürfig und immer freundlich. Den Charme eines etwas zu alt gewordenen Jungen strahlt er aus, ein Herr Müller-Lüdenscheid. Auch noch, als er später aus unerfindlichen Gründen (gefoltert?) etwas lädiert aussieht. Mit Verhörprotokollen aus der Tschechoslowakei protzt Autor und Regisseur Wittekindt im Programmheft, die ihm auf geheimnisvolle Weise zugespielt wurden. Unspektakuläres Geplänkel auf den ersten Blick, aber später fand er heraus, daß die scheinbar ziellose Befragung Methode hatte. Indirekte Reflexionstechnik heißt sie und wird – laut Wittekindt – heute nur noch in Israel angewandt. Das klingt spannend und hochbrisant. Doch vom realen Material ist kaum etwas zu spüren. Die Vernehmung wirkt wie ein stilisiertes Kaffeekränzchen. Einträchtig essen die Beamten mit dem Angeklagten Kuchen, in einem Service mit realsozialistischem Muster werden die Heißgetränke kredenzt, und ein Schnäpschen darf auch mal sein. Man plaudert über alles, nur nicht über den Verhandlungsgegenstand. Heftig absurd das Ganze. Es grüßen Kafkas „Prozeß“ und Ionescos „Nashörner“. Aber es fehlt die unfaßbare Bedrohung.

Mit der tödlichen Verwendung von Sprache will sich die Aufführung auseinandersetzen. Davon wird gar nichts sichtbar. Auf der Bühne steht eine kunstvoll verschachtelte Sprechoper. Chorische Sequenzen wechseln ab mit in der Reihe aufgesagten Statements. Dem Klang der Wortkanonaden wird eine größere Wichtigkeit gegeben als dem Inhalt. Das ist exakt gearbeitet und bisweilen ein witziges Hörvergnügen. Bloß befördert es das Thema in keiner Weise. Da werden Eichmann-Protokolle erwähnt und die Oberverhörerin behauptet von sich, Faschistin zu sein. Alles ist in Nebensätzen verwurstet und nichts auf den Punkt gebracht. Um die Austauschbarkeit der Systeme geht es, die Austauschbarkeit der Personen und Funktionen. Der Hund ist nichts anderes als der Herr und der Freund nichts anderes als der Feind. Da kann man sich nur die Kugel geben. Und die bekommt der kurz zuvor zum Behördenchef beförderte Angeklagte auch zum Schluß. Quod erat demonstrandum. Gerd Hartmann

Vom 9.–16. November um 20.30 Uhr im Dock 11, Kastanienallee 79, Prenzlauer Berg