Wenn die Kinder nachts in der Kita schlafen

■ Ein umstrittenes Modell: In der Schlafkita im Klinikum Buch können schichtarbeitende Eltern ihre Kinder über Nacht zur Betreuung lassen / Nur zwei Einrichtungen in Berlin

Es ist noch früh am Nachmittag. Jana Kurczyk bringt ihren zweieinhalbjährigen Sohn Kai ins Haus 216, in die Schlafkita im Klinikum Buch – eine von nur zwei Einrichtungen in Berlin, die Kinder auch nachts betreut. Die 26jährige Krankenschwester arbeitet auf der Physiotherapiestation. Ihr Dienst beginnt heute um 14 Uhr und dauert bis 22.30 Uhr. „Erst war es die absolute Notlösung“, sagt sie, „aber mittlerweile schläft Kai wirklich gerne hier. Ich habe einfach niemanden, der ihn an den Tagen, an denen ich spät arbeite, pünktlich aus der Tages-Kita abholen kann.“

Ganz selbstverständlich holt sich Kai seine Hausschuhe aus dem Regal und verkrümelt sich ins Spielzimmer. Noch ist er dort alleine. Die anderen Kinder, die heute nacht hier schlafen werden, kommen erst am späten Nachmittag. Kai scheint es zu genießen, daß er heute die Eisenbahn für sich hat. Heute hat Evelin Rogatzky Dienst. Das Bild gleicht dem Familienleben anderswo. Während die Erzieherin in der Küche wirtschaftet und ramponiertes Spielzeug repariert, fragt sie Kai, was er denn gerne zum Abendbrot essen möchte. „In ungefähr zwei Stunden hole ich die anderen Kinder, die heute hier schlafen werden, drüben ab“, sagt Evelin Rogatzky. Mit drüben ist die Tages-Kita nebenan gemeint. Seit dem 1. September hat der Träger der Kitas – der Stadtbezirk Pankow – diese etwas komplizierte Konstruktion mit getrennter Tages- und Nachtbetreuung in zwei verschiedenen Häusern gefunden. Die Ausnahmegenehmigung des Senats für eine 24-Stunden-Kita, die seit 1989 jährlich verlängert worden war, war Mitte des Jahres ausgelaufen.

Im Kinder und Jugendhilfegesetz sind zur Zeit noch die Öffnungszeiten von 6 Uhr bis 18 Uhr festgeschrieben. Auf dieser gesetzlichen Grundlage erteilt der Senat die Betriebsgenehmigungen für die Kitas. „Hier ist eine Lücke im Gesetz, die es unbedingt zu schließen gilt“, meint die Stadträtin für Jugend und Sport in Pankow, Kirstin Fussan-Freese (SPD). Für Berlin ist ein Kita-Gesetz in Arbeit. Darin sollen unter anderem die Öffnungszeiten, die Träger der Einrichtungen sowie der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab 1996 festgeschrieben werden.

Von einzelnen Parteien liegen Entwürfe schon vor und stehen zur Diskussion. Vor allem Bündnis 90/ Die Grünen und die CDU plädieren in ihren Entwürfen für flexiblere und bedarfsgerechte Kita- Öffnungszeiten.

Langsam wird es kühl auf dem Spielplatz hinter der Tageskita. Die Sonne steht schon tief. Die Kinder toben und wälzen sich im Herbstlaub. Nach und nach kommen Eltern oder Geschwister und holen die Kinder ab. Dreiräder, Bobby-cars, Puppenwagen, Eimer, Schaufel und sonstiges Spielgerät werden im Keller verstaut. Fünf Kinder sind noch da. Ein bißchen durchgefroren und hungrig mampfen sie Kuchen.

Die einjährige Lin, die sechsjährige Denise und die fünfjährige Sandra werden heute über Nacht in der Schlafkita bleiben. Lins Mutter arbeitet in der Wäscherei der Klinik. Auch hier wird in Schichten gearbeitet. Wenn sie Frühdienst hat, beginnt sie um halb sechs, eine halbe Stunde bevor die Kita öffnet. Deshalb beibt Lin an diesen Tagen gleich ganz hier. Auch Christine Schmidt, die Mutter von Denise, nutzt die Möglichkeit, ihre Tochter hier unterzubringen. „Ich bin alleine und müßte sonst meinen Job kündigen. Ich bin froh, daß es dieses Angebot hier gibt, obwohl ich es nicht gerne tue“, sagt die 30jährige Anästhesie-Krankenschwester. Aber mit einer 50- bis 60-Stunden-Woche hätte sie einfach keine andere Wahl. Im Durchschnitt seien es fünf oder sechs Nächte im Monat, in denen ihre Tochter Denise in der Kita schläft.

Bevor Evelyn Rogatzky mit den Kindern in die Schlafkita wechselt, unterhält sie sich noch mit der Erzieherin der Tageskita – ob es Probleme gab, wer von den Kindern gut oder schlecht gelaunt war, wann sie morgen früh wieder gebracht werden sollen.

Das Angebot, die Kinder über Nacht in der Schlafkita zu betreuen, gilt nur für die Mütter und Väter, die im Klinikum Buch angestellt sind. Fast alle, ob Krankenschwestern, ÄrztInnen, Röntgen- und LaborassistenInnen, Köche oder Angestellte in der Wäscherei, arbeiten hier im Schichtdienst – früh morgens, spät abends, nachts und am Wochenende. Zeiten, die sonst keine Kindertagesstätte abdeckt.

„Früher war hier alles unter einem Dach“, sagt Kitaleiterin Marianne Knispel. Nachdem bekannt geworden war, daß der Senat die Nachtgenehmigung für die ehemalige Betriebskita nicht verlängert, stiegen die Eltern, vor allem die alleinerziehenden berufstätigen Mütter, auf die Barrikaden. Nach Gesprächen zwischen Klinikleitung, Bezirksamt und Senat hatte man sich geeinigt, die Tages- und Nachtbetreuung zu trennen – ein Verwaltungstrick. „Wegen der starren Gesetze blieb nur diese Lösung mit den zwei Häusern. Ob sie tragfähig ist, müssen wir abwarten“, sagt die Heimleiterin Vera Kluge. „Die Schlafkita ist erst einmal auf ein Jahr befristet. Zur Zeit haben wir Anmeldung von 25 Kindern im Alter zwischen einem und sechs Jahren. Im Notfall nehmen wir auch mal ein Schulkind. Pro Nacht können wir acht, wenn es notwendig ist, auch mal zehn Kinder aufnehmen.“

„Für mich ist dieses Modell eine Notvariante, doch besser diese Lösung als keine“, meint Stadträtin Kirstin Fussan-Freese. „Es wäre sinnvoller, das Geld für die Tagespflege zu erhöhen.“ Bei Bedarf könnten die Kinder dann nachts von „Tagesmüttern“ zu Hause betreut werden.

Auch die Gewerkschaften sind skeptisch. Pädagogisch und tarifpolitisch ist das Modell bei ihnen umstritten. Die Kita auf dem Klinikgelände in Buch bleibe erst mal eine absolute Ausnahme, heißt es, weil hier Arbeitsplatz, Wohnung und Kindertagesstätte sehr eng beisammen lägen und der Bedarf durch eine Vielzahl von Schichtarbeiterinnen wirklich gegeben sei. Eigentlich ginge es jedoch darum, familienfreundlichere Arbeitszeiten zu schaffen.

Es ist jetzt 19.30 Uhr. In der Schlafkita ist es ruhig. Lin und Kai schlafen schon, Denise und Sandra spielen noch. Sandras Mutter fängt um 22.30 Uhr mit der Nachtschicht an. Sie ist zwar beruhigt und weiß ihr Kind in guten Händen. „Gerne mache ich das jedoch nie. Aber es gibt keine andere Möglichkeit.“ Michaela Eck