■ Nicht beantwortete Fragen
: Gerd Poppe

Welch ein Schurkenstück: Gysi der Gejagte, der politisch Verfolgte, der mundtote Talkshow- Dauergast.

Zwei engbedruckte Seiten in der taz für die Selbstdarstellung des vom Haß seiner Mandanten gepeinigten Wohltäters. Wann jemals gab es in einer deutschen Tageszeitung soviel Platz für wirklich verfolgte und unterdrückte Menschen?

Wie verhält es sich denn nun mit den gysihassenden „Jägerinnen und Jägern“. Können sie überhaupt richtig hassen oder besteht ihr Problem eher darin, daß sie es nicht einmal im Herbst 1989 fertigbrachten, diejenigen zu hassen, von denen sie „zersetzt“ oder liquidiert werden sollten?

Ich jedenfalls hasse Gregor Gysi nicht. Ich hasse auch nicht die als Denunzianten lange feststehenden Böhme, Schnur, Anderson und wie sie noch alle heißen. Ich finde sie nur armselig, wie sie von ihrem pathetisch vorgetragenen Veränderungsanspruch heruntergekommen und zur bloßen Aktenexistenz verkümmert sind.

Wenn es schon um die großen Gefühle geht, so sollte sich Gysi eher um diejenigen Sorgen machen, die ihn mit ihrer Liebe verfolgen, indem sie in bestimmten Wohnblocks für PDS-Wahlergebnisse sorgen, auf die auch die SED hätte stolz sein können.

Es ist natürlich kein Zufall, wenn Gysi denjenigen seiner Mandanten, die nicht aufhören wollen, ihm unbequeme Fragen zu stellen, vorhält, sie würden ihn politisch ausschalten und ihm auch seine Verdienste zu DDR-Zeiten nehmen wollen. Ihr Motiv wäre, daß sie unbedeutend und erfolglos geblieben wären. Nicht einmal richtige Märtyrer seien sie geworden.

Gysis Darstellung ist nur eine Spielart der so sehr in Mode gekommenen populistischen Verkehrung des Täter- und Opferbegriffs. Die Fragesteller sollen demontiert, ihnen unlautere Absichten unterschoben werden. Dazu gehören auch die persönlichen Angriffe und Unterstellungen.

Was mich betrifft, so unterstellt mir Gysi eine „Identität als Ankläger und ,Richter‘“ im Geschäftsordnungs- und Immunitätsausschuß des Deutschen Bundestages. Die eine „Ausnahme“, die ihm gegenüber „eine wohlwollende Haltung einnimmt“, hat ihm doch sicher berichtet, daß ich wegen meiner Aktenfunde zu „Notar“ weder an den Gysi betreffenden Formulierungen mitgearbeitet, noch mich an den diesbezüglichen Abstimmungen beteiligt habe. Überdies ist zu fragen, warum Gysi die Veröffentlichung des Ausschußberichtes immer noch blockiert, wenn er zugleich behauptet, der Bericht würde ihn entlasten.

An anderer Stelle mutmaßt Gysi, ich hätte möglicherweise nicht einmal etwas dagegen gehabt, hätte er zu meinen Gunsten mit der Stasi verhandelt. Dies ist eine sehr eigenwillige Deutung eines Briefs, den ich ihm im November 1982 nebst einer Auflistung diverser mich betreffender Stasi- Schikanen persönlich übergab.

Mir war mehrfach die Einleitung eines Strafverfahrens angedroht worden, so daß ich Gysi, der an jenem Tag eine Beschwerde gegen eine Ordnungsstrafe für mich aufsetzte, nicht darüber im unklaren lassen wollte, was auf mich zukommen konnte (und damit auch auf ihn als Anwalt).

Ich will mich an dieser Stelle nicht mit den unterschiedlichen Lesarten eines zwölf Jahre alten Briefes befassen. Natürlich waren auch wir „Bürgerrechtler“ (– eine Bezeichnung übrigens, die wir uns selbst nie gegeben haben –) manchmal unsicher oder ängstlich, mitunter gar devot. Manche von uns haben zehn Jahre oder länger gebraucht, ehe sie von den vorsichtig formulierten „Eingaben“ Abstand nahmen, ehe sie für sich selbst akzeptierten, als Oppositionelle oder gar „Staatsfeinde“ zu gelten. Niemand wollte unbedingt in den Knast, und es ist nichts als ein fadenscheiniges Ablenkungsmanöver, uns das heute vorzuhalten.

Die Fragen, die ich Gregor Gysi seit meiner Akteneinsicht im Januar 1992 stelle, handeln nicht davon, wie klar oder wie mißverständlich wir uns in der Zeit der SED-Diktatur jeweils verhalten oder ausgedrückt haben. Sie sind von viel einfacherer Art, aber sie erledigen sich nicht von selbst, wie Gysi und sein Pressesprecher zu glauben scheinen. Ich muß nicht „einräumen“, daß ich die Fragen schon einmal stellte, sondern ich stelle sie erneut, weil sie bisher unbeantwortet sind:

Wie kommen der oben genannte Brief und die dazugehörige Auflistung von MfS-Repressalien in die Stasiakten? Wo hat G. solche Papiere aufbewahrt, wer hatte noch Zugang zu ihnen?

Wie sind die drei in den Stasi- Unterlagen enthaltenen ausführlichen Berichte über Gespräche unter vier Augen zwischen G. und mir in den Jahren 1982 und 1983 zustandegekommen? Hat G. sie oder Teile von ihnen selbst geschrieben oder auf Band gesprochen? Zu welchem Zweck?

Mit wem hat sich G. über den Inhalt der vertraulichen Gespräche verständigt? Wer außer G. hätte überhaupt die Detailkenntnisse und den juristischen Sachverstand haben können, um die Berichte, die eindeutig nicht durch bloße Abhörmaßnahmen erklärbar sind, zu verfassen?

Hat G. Personen, die als Autoren solcher Berichte oder als Übermittler von schriftlichen Berichten, Tonbandaufzeichnungen oder Dokumenten an das MfS in Frage kämen, aufgefordert, sich durch die Gauck-Behörde überprüfen zu lassen?

Klare Antworten auf derartige Fragen werden von Gysi bis heute nicht gegeben. Statt dessen gibt er komplizierte Erklärungen dazu ab, daß er schon wegen der nicht aktenkundig vollzogenen IM-Werbung überhaupt nicht die Quelle „Notar“ sein könne, auf die sich die MfS-Hauptabteilung XX bei der Ablage von Berichten und Tonbandabschriften mehrfach bezogen hat.

Zum wiederholten Male allerdings befaßt sich Gysi mit dem Vermerk des Ex-Stasioffiziers Lohr, wonach der IM „Notar“ ihm am 4.1.84 eine Erklärung übergeben hätte, die ich am gleichen Tag um 16 Uhr bei Rechtsanwalt Gysi abgab. In der Tat war meine Erklärung für die Öffentlichkeit bestimmt. Richtig ist auch, daß Lohr sie mit inhaltlichen und orthographischen Fehlern in seiner Akten abgelegt hat.

Interessant an Lohrs Vermerk ist ohnehin nur die Feststellung einer Übergabe durch „Notar“. Nun ließe sich vielleicht feststellen, ob die Stasi mitunter auch ein Telefonat als „Übergabe“ klassifiziert hat. In diesem Fall wären die „Gesetze der Logik“ gerettet, und die Rechtschreibschwäche müßte nicht „Notar“, sondern dem Ex- Oberleutnant Lohr zugeordnet werden.

Lohr hat bekanntlich behauptet, „Notar“ wäre nicht eine einzelne Person, sondern eine Sammelakte, zu der auch mehrere IM beigetragen haben. Bisher gibt es nicht einen Aktenfund, durch den diese Behauptung belegt wird. Handelnde Personen in den auf „Notar“ bezugnehmenden Berichten sind ausschließlich die MfS-Offiziere Reuter und Lohr und GMS bzw. IM „Notar“ einerseits sowie Rechtsanwalt Gysi und seine Mandanten andererseits. Es wäre doch ausgesprochen ungeschickt von Lohr, wenn er ausgerechnet die Unterlagen vernichtet hätte, die seine These von den mehreren Informanten bestätigen.

Ich bin seit jeher der Auffassung, daß die öffentliche Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit nicht auf die leidige IM-Problematik reduziert werden sollte. Der öffentliche Diskurs muß sich auf das von der SED installierte repressive System, wozu neben dem MfS auch das Justizwesen zählte, ebenso beziehen wie auf die anhaltenden Folgewirkungen der Diktatur und auf die Konsequenzen aus unseren Erfahrungen für die Demokratieentwicklung. Gysi könnte durch einen offenen Umgang mit den ihn betreffenden Fragen selbst dazu beitragen, daß solche Themen zukünftig im Vordergrund der Aufarbeitung stehen. Wenn er aber die aktuelle Debatte als rückwärtsgewandte Nabelschau oder als billige Racheakte einiger vermeintlich zu kurz gekommener Ex-Dissidenten desavouiert, gefährdet er den für die Aufarbeitung erforderlichen Grundkonsens der Demokraten.

Gysi argumentiert mehrfach, seine Mandanten hätten von ihm erwartet, daß er seine besonderen Beziehungen zur SED in ihrem Sinne nutzt. Selbstverständlich wußten wir, daß die Tätigkeit von Anwälten gerade in politischen Prozessen eine permanente Gratwanderung bedeutete. Niemand erwartete, daß Gysi sich als SED- Mitglied auf die Seite der „Staatsfeinde“ schlagen würde. Dennoch erhofften wir von ihm und anderen Rechtsanwälten, daß sie die Grenzen, die ihnen durch das Vertrauen ihrer Mandanten gesetzt waren, nicht durch Kungelei mit SED, Staatssicherheit und Staatsanwaltschaft überschritten, und daß sie den geringen Spielraum nutzten, den die SED-abhängige Rechtsprechung bot.

Der Vertrauensvorschuß seitens seiner Mandanten, auf den Gysi immer bauen konnte, hat sich erschöpft. Heute würde ich Gregor Gysi kein Mandat mehr erteilen – nicht nur wegen des Verdachts der Zusammenarbeit mit den Stasitätern der Hauptabteilung XX, nicht nur wegen der von Gysi bestätigten Gespräche über Mandanten mit Mitarbeitern des ZK der SED, sondern auch deswegen, weil ich zu DDR-Zeiten vielen Rat und Hilfe suchenden Menschen den Rechtsanwalt Gysi sozusagen als erste Adresse empfohlen habe. Nachdem ich nun gelesen habe, wie Gysi über frühere Mandanten herzieht, kann ich das nur noch bedauern.