■ Die Bundestagsrede von Alterspräsident Stefan Heym
: „Große Koalition der Vernünftigen“

An dieser Stelle, vor vier Jahren, eröffnete Willy Brandt den ersten gesamtdeutschen Bundestag. Ich habe zur Vorbereitung meiner seine Rede vor kurzem noch einmal gelesen und mit Bedauern festgestellt, daß nicht alles von dem, was ihm vorschwebte, Wirklichkeit geworden ist. Willy Brandt hat uns verlassen; doch wir stehen, meine ich, immer noch in seiner Pflicht.

An dieser Stelle stand auch, im gefahrvollen Jahre 1932, Clara Zetkin und eröffnete den damals neu gewählten Reichstag. Wir wissen, was aus dem Reichstag wurde, dessen Sitzungsperiode diese hochherzige Frau damals auf den Weg brachte: Zum Reichstagspräsidenten wurde Hermann Göring gewählt, und der Kanzler, den jener Reichstag ernannte, hieß Adolf Hitler, und fast zweihundert der Reichstagsmitglieder gerieten in Gefängnisse und Konzentrationslager – über die Hälfte davon starben eines gewaltsamen Todes –, und das Reichstagsgebäude, in dem wir uns heute befinden, brannte.

Ich selber habe den Brand gesehen. Kurz darauf mußte ich Deutschland verlassen und sah es erst in amerikanischer Uniform wieder, ein Überlebender, und kehrte Jahre später dann in den östlichen Teil des Landes zurück, in die DDR, wo ich auch bald in Konflikte geriet mit den Autoritäten; und wenn einer wie ich, mit dieser Lebensgeschichte, sich jetzt von hier aus an Sie wenden und den 13. Bundestag, den zweiten des wiedervereinten Deutschlands, eröffnen darf, so bestärkt das meine Hoffnung, daß unsere heutige Demokratie doch solider gegründet sein möchte, als es die Weimarer war. [...]

Wir werden keine leichte Zeit haben in den nächsten vier Jahren. Es werden Entwicklungen auf uns zukommen, auf welche die wenigsten von uns, schätze ich, sich bisher eingestellt haben und um die wir uns nicht werden herumschwindeln können. Wie sagte doch Abraham Lincoln, der große amerikanische Präsident? Einen Teil der Menschen können Sie die ganze Zeit zum Narren halten und alle Menschen einen Teil der Zeit, aber nicht alle Menschen die ganze Zeit. Die Krise, in welche hinein dieser Bundestag gewählt wurde, ist ja nicht nur eine zyklische, die kommt und geht, sondern eine strukturelle, bleibende, und dieses weltweit. Zwar hat die Mehrheit der davon betroffenen Völker sich von der hemmenden Last des Stalinismus und Poststalinismus befreit, aber die Krise, von der ich sprach, eine Krise nunmehr der gesamten Industriegesellschaft, tritt dadurch nur um so deutlicher in Erscheinung. [...]

Deutschland, und gerade das vereinigte, hat eine Bedeutung in der Welt gewonnen, der voll zu entsprechen wir erst noch lernen müssen. Denn es geht nicht darum, unser Gewicht vornehmlich zum unmittelbaren eignen Vorteil in die Waagschale zu werfen, sondern das Überleben künftiger Generationen zu sichern.

Brecht schrieb:

Anmut sparet nicht noch Mühe,

Leidenschaft nicht noch Verstand,

daß ein gutes Deutschland blühe

wie ein andres gutes Land.

Daß die Völker nicht erbleichen

wie vor einer Räuberin,

sondern ihre Hände reichen

uns wie andern Völkern hin.

Und nicht über und nicht unter

andern Völkern woll'n wir sein,

von der See bis zu den Alpen,

von der Oder bis zum Rhein.

Und weil wir dies Land

verbessern,

lieben und beschirmen wir's.

Und das liebste mag's uns scheinen

so wie andern Völkern ihrs.

[...] Die Menschheit kann nur in Solidarität überleben. Das aber erfordert Solidarität zunächst im eigenen Land. West. Ost. Oben. Unten. Reich. Arm. Ich habe mich immer gefragt, warum die Euphorie über die deutsche Einheit so schnell verflogen ist. Vielleicht weil ein jeder als erstes Ausschau hielt nach den materiellen Vorteilen, die die Sache ihm bringen würde. [...] Zu wenig wurde nachgedacht über die Chancen, die durch die Vereinigung unterschiedlicher Erfahrungen, positiver wie negativer, sich für das Zusammenleben und die Entwicklung der neuen alten Nation ergeben könnten und, wie ich hoffe, noch immer ergeben können.

[...] Die gewaltlose Revolution vom Herbst 1989 hat den Menschen der alten Bundesländer Möglichkeiten zu neuer Expansion gebracht und denen der Ex-DDR Rechte und Freiheiten, die keiner von ihnen mehr missen möchte und die, ich betone das ausdrücklich, sie sich selber erkämpften. Und diejenigen DDR-Bürger, die die Waffen zur Erhaltung des ungeliebten Systems besaßen, waren zurückhaltend genug, auf deren Anwendung zu verzichten; und dieses sollte, so meine ich, bei ihrer künftigen Beurteilung zumindest mit in Betracht gezogen werden.

Die Vergangenheitsbewältigung, von der heute um der Gerechtigkeit willen soviel die Rede ist, sollte eine Sache des ganzen deutschen Volkes sein, damit nicht neue Ungerechtigkeiten entstehen. Aber vergessen wir dabei nicht, daß die Jahrzehnte des Kalten Krieges, welche uns die Spaltung Deutschlands mitsamt der schrecklichen Mauer und deren Folgen brachten, historisch gesehen das Resultat des Nazi-Regimes waren und des Zweiten Weltkriegs, der von diesem ausging.

Die Effizienz des Westens, seine demokratischen Formen und anderen Qualitäten des Lebens dort, die zum Nutzen der Ostdeutschen zu übernehmen wären, liegen zutage. Aber umgekehrt? Gibt es nicht auch Erfahrungen aus dem Leben der früheren DDR, die für die gemeinsame Zukunft Deutschlands zu übernehmen sich ebenfalls lohnte? Den gesicherten Arbeitsplatz vielleicht? Die gesicherte berufliche Laufbahn? [...] Unterschätzen Sie doch bitte nicht ein Menschenleben, in dem trotz aller Beschränkungen das Geld nicht das Allentscheidende war, der Arbeitsplatz ein Anrecht von Mann und Frau gleichermaßen, die Wohnung bezahlbar und der wichtigste Körperteil nicht der Ellenbogen. [...]

Die Menschen erwarten von uns hier, daß wir [...] uns als Wichtigstes mit der Herstellung akzeptabler, sozial gerechter Verhältnisse und der Erhaltung unserer Umwelt beschäftigen. Die Vorstellungen in diesem Hause dazu mögen weit auseinanderklaffen. Lassen Sie uns ruhig darüber streiten. Doch in einem werden wir hoffentlich übereinstimmen: Chauvinismus, Rassismus, Antisemitismus und Stalinsche Verfahrensweisen sollten für immer aus unserem Lande gebannt sein. [...] All dieses jedoch kann nicht die Angelegenheit nur einer Partei oder einer Fraktion sein. Es ist nicht einmal die Sache eines Parlaments nur, sondern die aller Bürgerinnen und Bürger, West wie Ost. Und wenn wir von diesen moralisches Verhalten verlangen und Großzügigkeit und Toleranz im Umgang miteinander, dann müßten wir wohl, als ihre gewählten Repräsentanten, mit gutem Beispiel vorangehen. Und just darum plädiere ich dafür, daß die Debatte um die notwendigen Veränderungen in unserer Gesellschaft Sache einer großen, bisher noch nie dagewesenen Koalition werden muß, einer Koalition der Vernunft, die eine Koalition der Vernünftigen voraussetzt. [...]