Voll „Sehen-Sucht“

Die Malerin Natascha Ungeheuer, eine Meisterin des magischen Realismus, lebt bescheiden in Kreuzberg, ihre Bilder stellt sie nur selten aus. Ein Portrait  ■ Von Ute Scheub

Sie lebt in Gegensätzen. 55 Jahre Lebenserfahrung hat sie nun schon – aber über die Welt staunt sie immer noch wie ein Kind. International bekannt ist sie, ihre Bilder wurden schon in Hongkong oder Papua-Neuguinea gezeigt – aber weil sie den Kulturbetrieb meidet, ist ihr Name in kaum einem Kunstbuch zu lesen. Reich sprudelt ihre Phantasie – aber leben tut sie in Armut. Eine Einzelgängerin ist sie, nie hält sie es lange in einer Gruppe aus – aber ihre Sehnsucht nach Menschen ist groß. Schnell wie ein Wirbelwind fegt sie durch ihre kleine Kreuzberger Wohnung – alle Zeit der Welt aber hat sie für Freunde oder Besucher oder überhaupt für Menschen. Auch an den wundersamen Figuren ihrer Ölbilder arbeitet sie lange und sorgfältig: Wochen vergehen, bis ein Bild fertig ist, und noch viel mehr Zeit, bis es wieder eine Ausstellung von Natascha Ungeheuers Werken gibt.

„Ich nehme mir Zeit, als ob ich nie sterben müßte“, lächelt die Malerin in ihre Kaffeetasse. Auf dem Tischchen vor ihr flackert eine Kerze, rings um den bullernden Kachelofen versammeln sich ihre Erinnerungen: Fotografien, getrocknete Blumensträuße, ein schwarz gepeekter Teekessel, vergilbte Zeichnungen und überall an den Wänden ihre Gemälde. Dabei ist sie schon früh – zu früh – mit dem Sterben konfrontiert worden: Ihre Eltern starben, als sie noch sehr klein war, später nahm ihr Klassenlehrer sie in seine Familie auf. Ihre Mutter hatte sie sehr geliebt. „Sie hat mir jeden Abend Märchen vorgelesen und mir immer gesagt: ,Du bist eine Königstochter!‘ Und nach einer kleinen Pause: ,Aber alle anderen Menschen auch.‘“ Dieser Satz hat sich bei der Tochter tief eingegraben: „Ich bin überzeugt, daß jeder Mensch ein unentdecktes Rätsel ist.“

Geboren zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Blumenfeld im deutsch-französisch-schweizerischen Dreiländereck, wuchs sie in einem entlegenen Schwarzwalddorf auf, in dem es zuging wie noch vor hundert Jahren. Wenn Natascha Ungeheuer von ihrem Dorf erzählt, dann meint man alles zu riechen, zu sehen und zu hören, den Sauerkrautschneider mit dem Krauthobel auf dem Rücken, den weiß verstaubten Mühlenboden, wo ein Zigeuner zum Tanz aufspielt, das Gebetgemurmel in der Bauernstube bei Gewitter.

Ihre Kindheitserinnerungen hat sie sich klar wie in einem Bernstein eingeschlossen bewahrt. Auch sie selbst ist ein lustiges Kind geblieben, das sich gerne schüttelt vor Lachen, ein trauriges Kind, das mit dunklen Augen in die Welt staunt. Ihre Gemälde sind wie Bilderbücher, wie ein unendlicher Reigen von Geschichten über Trinker und Träumer, Mörder und Musikanten, Liebende und Wartende, Spieler und Herrscher, dabei aber nie naiv, sondern vielschichtig, mehrdeutig, gebrochen.

Sie malt so ähnlich, wie Isabel Allende oder Gabriel Garcia Marquez erzählen – aber auch wenn man ihren Stil mit „magischem Realismus“ bezeichnet, ist das nur eine Annäherung. Natascha Ungeheuer ist eben Natascha Ungeheuer, und ihr Platz, sagt sie, „ist zwischen den Stühlen“.

Auch äußerlich ist sie ganz eigen. Ihre schwarzen Haare, ihr zigeunerhaftes Aussehen haben in ihr schon früh das Gefühl von Fremdheit erzeugt. Dabei kümmert sie sich wenig um ihr Aussehen, kauft nur ungern Klamotten, wenn, dann vom Trödelmarkt, steckt ihre Haare mit einen abgebrochenen Pinsel hoch und schmückt sich mit einem lebendigen Gesicht.

Mit einem Pappkoffer quer durch Europa

So ist sie eben: in materieller Hinsicht lebte sie schon immer anspruchslos. Nach einem Pädagogikstudium in Stuttgart und Lüneburg hat sie sich bald völlig ungesichert ins Leben gestürzt. In Bern bei Harald Kreuzberg hat sie den Ausdruckstanz entdeckt, in Berlin bei Mary Wigman tanzte sie weiter. Mit einem kleinen Pappkoffer ist sie durch Deutschland und Europa getrampt, ihr bißchen Geld hat sie sich mit Geschirrspülen, Fliesenlegen, Zeitungsaustragen und ähnlichem verdient. Ihre erste bezahlte Malerarbeit bestand darin, „Herren“ und „Damen“ auf die Klotüren von Berlins Billigrestaurant Aschinger zu pinseln.

Überhaupt Berlin. Damals, kurz nach dem Mauerbau, ist das Schwarzwaldmädchen aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen, heute, nach dem Mauerfall, wundert sie sich immer noch. „Wunderbare Gesichter“ gebe es hier, findet die Malerin, die große Zuguckerin, die ihre Sehnsucht nach Menschen als „Sehen-Sucht“ beschreibt. Aber selbst in Kreuzberg, sagt sie, werde alles immer „glatter und platter“. Blankrenovierte Fassaden, blankgeputzte Menschen, die das Alleinsein hinter Coolness verbergen.

Die Fälle, in denen jemand aus Einsamkeit verrückt wird, hätten dieses Jahr um vierzig Prozent zugenommen, hat ihr neulich ein Sozialarbeiter erzählt, darunter seien auffallend viele junge Menschen. Bei diesem Gedanken kriecht sie in ihren Pullover hinein und zieht die Ärmel über die Handgelenke.

Andererseits weiß sie, daß es immer wieder wunderbare Überraschungen gibt. So wie im Winter 1962, als sie fast ohne Geld und ohne Adresse zum ersten Mal auf dem Ku'damm gelandet ist. In einem Café, in dem sie sich aufwärmen wollte, erschien plötzlich ein alter Inder mit weißem Turban und lud alle Gäste zu Speis und Trank ein, weil in zwei Stunden sein Flugzeug zurück nach Hause fliege. Als er gegangen war, überreichte ihr die Kellnerin sein Geschenk speziell für sie: ein ganzes gebratenes Hühnchen, eine große Pralinenschachtel und ein Briefumschlag mit fünfzig Mark in bar.

Schnurstracks ist sie losgezogen, auf Wohnungssuche, sie klingelte drei Stunden lang erfolglos an jeder Tür und nagte Hinterhof für Hinterhof ihr Huhn weiter ab, bis nur noch Knochen blieben. Schließlich fand sie bei einer Heiratsvermittlerin und einer Generalswitwe ein Kabuff mit Bett. Die Bude für zehn Mark im Monat war fortan Ausgangspunkt für alle Streifzüge durch Straßen und Gassen, Kinos, Kirchen und Kneipen. Die vielen Eindrücke hat sie damals noch in Sprache und Schrift zu bannen versucht – nur ab und an zeichnete sie mit einem Kohlestift die Gesichter von Kneipengängern nach und wurde als „das Mädchen mit den schwarzen Händen“ bekannt.

Und dann kam Johannes. Und die Studentenbewegung. Mit Johannes Schenk, dem Literaten, ist sie nach dreißig Jahren immer noch zusammen. Als andere schon auf dem Amboß ihrer Partei die Kader schmiedeten, haben sie zusammen Straßentheater gespielt, eine glückliche Zeit von sieben langen Jahren. Aus billigem Material hat sie Masken und Puppen gepappt und Requisiten hergestellt und nebenher Titelbilder für die linke Zeitung Der lange Marsch gemalt. Als sonderlich politisch informiert hat sie sich dabei nie empfunden, sie wurde links „aus Neigung“.

Und blieb dabei, zumal ihr Kaufen und Konsum nie etwas bedeutet haben. Ein-, zwei-, höchstens dreimal im Jahr verkauft sie ein Bild, das reicht fürs Nötigste. Ein Atelier wäre schon zu teuer, sie lebt und malt in ihrer kleinen Hinterhofwohnung und ist darin völlig zufrieden, weil die noch so schön billig ist. „Zwischen mir und der Obdachlosigkeit“, weiß sie, „ist nur eine hauchdünn bemalte Leinwand.“

Den Kunstmarkt, „dieses kühle Pflaster“, meidet sie fast ganz. Wenn ihr dann und wann jemand eine Ausstellung anträgt, freut sie sich. Auf Eröffnungen fühlt sie sich dann „zwischen Geburtstag und aufkommender Grippe“. Sie stellt gerne aus, denn „die Bilder wollen unter die Menschen und reden“. Aber dann freut sie sich doch wieder wie ein Kind, „wenn sie endlich wieder bei mir zu Hause sind.“