12. November 1989
: Alles Wahnsinn

■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie

An diesem Wochenende, so scheint es, sind alle „drüben“. Das Fernsehen zeigt Bilder westdeutscher Grenzorte von Lübeck bis Hof, deren Innenstädte durch Trabi-Karawanen hoffnungslos verstopft sind. Mit einem Almosen in der Tasche ziehen die Menschen an glitzernden Schaufenstern vorbei, häufig aufgehalten von westdeutschen Journalisten, die „Stimmungsbilder“ einfangen wollen. „Wahnsinn“, sagen meine Landsleute immer wieder in die Kameras, das sei „alles Wahnsinn hier“.

Wahnsinnig finde ich das auch. Die SED hat erreicht, was sie wollte. Schneller hätte sie die Menschen nicht vom Demonstrieren abhalten, gründlicher sich des Drucks der Straße nicht entledigen können. Jetzt hoffen die Herren offensichtlich, weiterwurschteln zu können, weil niemand mehr Zeit hat, ihnen genau auf die Finger zu sehen. Die Leute warten statt dessen vor Postämtern und Bankschaltern geduldig in endlosen Schlangen auf den Empfang des „Begrüßungsgeldes“.

Dabei war die Vorstellung, Politiker machen Politik, längst täglich widerlegt worden. Sie fuchteln mit Phrasen. Das waren wir gewöhnt, aber plötzlich fiel es uns auf. Noch vor einer Woche waren die Ereignisse schneller als die schnellsten Worte und Sätze. Jetzt haben die Herren in Ost und West wieder Zeit für salbungsvolle Sprüche. Das Fernsehen, das sich in den vergangenen Wochen von ihnen abgewandt hatte, beachtet sie wieder. Plötzlich sind es wieder die Bürgermeister der Stadt, Krack und Momper, die sich die Hände schütteln, wenn ein Stück aus der Mauer rausgebrochen worden ist. Plötzlich reportieren die Journalisten wieder ihre dümmlichen Sätze. Wahnsinn. Wolfram Kempe