Auf türkischem Hoheitsgebiet

Am Wochenende treffen sich „Jungtürken“ in einer Berliner Disko. Ein Treffpunkt ganz im Trend ihres eigenen Selbstverständnisses – auch für Deutsche nicht „off limits“  ■ Von Dilek Zaptçioglu

In den zwanziger Jahren war Berlin Schauplatz eines politischen Attentats: Talat Pascha, einer der drei Jungtürken, die das Osmanische Reich an der Seite Kaiser Wilhelms in den Krieg geführt hatten, wurde in seinem Berliner Exil in der Hardenbergstraße am Zoo niedergeschossen. Heute, nach 70 Jahren, laufen an derselben Stelle wieder dunkelhaarige Gestalten herum. Ein türkisches Lied dröhnt aus überforderten Lautsprechern: „Sei nicht jemand anders / Sei du selbst / So bist du am schönsten / Komm zu mir wie du bist / Oder du kannst gleich Leine ziehen ...“ Der provokative Text gehört zu einem Song, der in der Türkei seinem Sänger über eine Million verkaufte Exemplare und eine ungeheure Beliebtheit bescherte: Tarkan, der ultimative Superstar des türkischen Pops, ein Rückkehrersohn aus Frankfurt am Main, benannt nach einem türkischen Comic-Helden.

Tarkans Name steht für die neue einheimische Popmusik, die in der Türkei mittlerweile den amerikanischen Sound verdrängt hat. Die Songs unterscheiden sich in ihren Texten und Rhythmen völlig von dem arabesken Sehnsucht-Liebe-Weltschmerz-Gesülze der siebziger oder achtziger Jahre. Sie drücken das neue Selbstbewußtsein der neuen Generation aus.

Gleich neben dem Amerika- Haus in der Berliner Hardenbergstraße hat im April eine türkische Diskothek aufgemacht, und seither trifft sich in der Hauptstadt tout le monde, jedenfalls die türkische, Wochenende für Wochenende im „Hadi Gari“. Die Gespräche der Jungtürken vor der Diskothek kreisen nicht um die Rettung des Vaterlandes vor dem Feind, sondern um die Frage, wie man denn noch Damenbegleitung organisieren könne, um durch die Kontrolle an der Diskotür zu schlüpfen.

Deutsche wie türkische Experten hatten die Eltern dieser Jugend, die zweite Generation, auf endlosen Tagungen als die „verlorene Generation“ bedauert. Bevor sie verlorengingen, haben sie anscheinend rasch noch ein paar Kinder gezeugt. Und die haben keineswegs die Absicht, zu verschwinden. Die jungen Türken von heute weisen Etiketts wie „zwischen zwei Stühlen“ von sich; sie wollen so akzeptiert werden, wie sie sind. Nicht alle laufen mit Taschenmessern und Baseballschlägern bewaffnet am Alex den Skins nach; nicht alle spielen in Kreuzberger Hinterhöfen „West Side Story“. Die überwiegende Mehrheit will nur eins: Leben und Erfolg haben, es zu etwas Besserem bringen als ihre Eltern. Darin unterscheiden sie sich kaum von ihren deutschen Altersgenossen.

Erdem Karahan, der Geschäftsführer der türkischen Disko, ist selbst ein Vertreter dieser Generation. Als Student der Betriebswirtschaftslehre hat er die goldenen Regeln des Marktes früh begriffen und die große Nachfrage unter türkischen Jugendlichen nach einem „eigenen Laden“ entdeckt. Er ist der Meinung, daß die türkischen Jugendlichen ein neuartiges Bewußtsein entwickeln: Er nennt es „modernes Türkischsein“ und definiert es so:

„Man ist jung, man geht raus, man respektiert die Eltern noch, aber man lebt ein eigenes Leben mit eigenen Ideen und anderen Vorstellungen, als unsere Eltern sie hatten. Unsere Eltern sind als Arbeiter nach Deutschland gekommen und hatten immer die Rückkehr im Auge. Die Sehnsucht, die Zwiespältigkeit hat sie schizophren gemacht. Wir bleiben jedoch hier, wir sind Mitbürger und nicht mehr Gäste. Wir leben einfach mit den Deutschen und gehören dazu.“

Tatsächlich aber scheint sich das Miteinander mit den Deutschen in letzter Zeit immer mehr auf das Notwendigste zu beschränken. Zum Beispiel bei Sevim, die mit ihrer Clique jedes Wochenende in der türkischen Disko verbringt: „Hier lerne ich die Musik kennen, die ich vorher nie gekannt habe“, sagt sie, „ich bekomme soviel mit, von der Kultur, von der Musik, es ist ein Stück Heimat hier.“ Wo ist sie geboren? „Im Wedding.“ Und was hat sie früher gemacht? Wäre sie auch vor fünf Jahren in die türkische Disko gegangen, hat sie sich etwa verändert? „Ja, auf jeden Fall“, antwortet sie, „früher habe ich das Türkische nicht so gesucht wie heute. Jetzt ist es aber so. Türkische Restaurants, türkische Gesellschaft, türkisches Essen. Wir haben da viel nachzuholen.“ Ihr deutscher Freund macht dazu eine nachdenkliche Miene. Vielleicht denkt er darüber nach, wie zerbrechlich doch Multikulti-Lieben sind.

Mit ihrem deutschen Freund ist Sevim unter den türkischen Mädchen mittlerweile eine Rarität. Was beispielsweise die 19jährige Semra erzählt, gilt inzwischen für die Mehrheit der jungen Türkinnen in Deutschland: „Ich finde es toll, daß man hier türkische Jungs kennenlernen kann“, sagt sie, „ich hatte früher einen deutschen Freund, aber ich würde nie einen Deutschen heiraten.“ Und zwar nicht deshalb, weil der Vater säbelrasselnd hinter der Tür stünde, sondern „weil ein Deutscher mich allenfalls so akzeptieren kann, wie ich bin, aber wirklich verstehen kann er mich nicht. Mich kann nur jemand verstehen, der beides, also das Türkische und das Deutsche kennt.“ Türkische Mädchen haben auch andere Einwände gegen deutsche Männer: „Ich finde türkische Männer viel charmanter, lustiger, offener als deutsche“, erzählt Lale, „wenn du mit 'nem Deutschen ausgehst, mußt du oft noch sein Bier mitbezahlen. Die türkischen Männer wissen einfach besser, wie man eine Frau behandelt. In Deutschland fehlt mir die Sinnlichkeit, die Spannung in den Beziehungen. Es ist alles so ohne Romantik, ohne viel Gefühl, so direkt und nüchtern. Es gibt eben Sachen, die kann man nur auf türkisch leben.“

Diese Back-to-the-roots-Bewegung rührt nicht daher, daß die Mädchen immer nur an Deutsche geraten sind, die sich gerne einen ausgeben ließen. Ein anderer wichtiger Auslöser läßt sich in zwei Worten zusammenfassen: „Mölln“ und „Solingen“. „Wir hatten uns alle über die Maueröffnung gefreut“, erzählt Mesut, „aber was dann geschah, hat niemand erwartet.“ Die jungen Leute fühlen sich von der deutschen Gesellschaft nicht akzeptiert. Früher hat man nur darüber geklagt, heute herrscht ein bißchen das Motto „Wer mich nicht will, dem biedere ich mich nicht an.“ Stolz mischt sich mit dem ohnehin vorhandenen Verlangen nach dem Deutschtürkischen, nach dem Sowohl-Als-auch. Insofern ist das Wort „Rückbesinnung“ auch nicht ganz richtig: Das Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt sich nicht mit den Türken, die in der Türkei geblieben sind, sondern mit den „Deutschländern“, die dasselbe Schicksal teilen und die sich deshalb untereinander am besten verstehen können.

Es wäre fatal, gleich von fehlender Bereitschaft zur Integration zu sprechen, von selbstgewollter Ghettoisierung, ja von nationalistischen Tendenzen unter den Türken. Verschiedene politische Gruppierungen versuchen tatsächlich, diese neue Entwicklung für ihr eigenen Ziele zu mißbrauchen. Solange nicht ein drittes Mölln passiert, haben sie kaum Chancen. Die Jugendlichen haben für türkeiorientierte Politiken oder islamisch-fundamentalistische Träumereien nicht viel übrig. Sie wollen keine Gewalt, aber sie sind bereit, sich bei Bedarf zu verteidigen. Sie wollen nur ihren Reichtum an beiden Kulturen ausleben und sind bereit, das auch mit Deutschen zu teilen. Erdem, der junge Manager von „Hadi Gari“, begrüßt seine deutschen Gäste mit den Worten: „Willkommen, ihr seid nun auf türkischem Hoheitsgebiet, aber keine Angst: Wir sind nicht ausländerfeindlich.“