: Stelmako! Stelmako! Obrotak! Obrotak!
Wie nicht zusammenwächst, was nicht zusammen will – Uraufführung von Sorokins „Jubiläum“ in Dresden ■ Von Petra Kohse
Die Uraufführung von Vladimir Sorokins „Jubiläum“ müßte eine Reise wert sein. Auf wenigen Druckseiten hat sich der Moskauer Konzeptualist drei Rituale vorgeknöpft, die nicht nur in der Sowjetunion (aber dort wohl vor allem) zum konventionellen Kultur-Kanon gehörten: das Betriebsjubiläum, den Lehrfilm über die Produktion, das klassische Erbe und den psychologischen Realismus auf dem Theater. Abschnittweise füllt Sorokin diese Formen mit grotesken Inhalten.
Das zehnjährige Bestehen des Tschechow-Protein-Kombinats wird gefeiert. Der Start in die Marktwirtschaft ist mit der Verarbeitung von 17.612 A.P. Tschechows aller Altersgruppen zu 881 Tonnen Tschechowprotein in diversen Darbietungsformen gelungen, das Bedürfnis der Gesellschaft nach klassischem Protein vollauf befriedigt.
Dann wird ein Film gezeigt, in dem eine berühmte Tschechow- Schauspieltruppe durch den Betrieb geführt wird und die Schauspieler sich mit den Präparaten auf ihre Rolle vorbereiten, bevor sie spielen: „Iwanow“, „Die Möwe“, „Onkel Wanja“, „Drei Schwestern“ und den „Kirschgarten“. Gleichzeitig, miteinander, gegeneinander. Jede Figur spricht die Sätze vom Anfang eines Auftritts und die vom Ende, was sich natürlich doch zu einer Art Tschechow- Handlung fügt, denn mehr oder minder schrieb AntonP. ja immer am gleichen Stück, in dem die Figuren ohnehin aneinander vorbeilamentieren.
Um noch eins draufzusetzen, läßt Sorokin das Geschehen immer wieder stocken, und dann ertönt der Ruf „Achtung, Achtung! Zeit für den Schrei in die inneren Organe der Anton Tschechows“, woraufhin die Schauspieler zu den bereitliegenden Organen eilen und sich mit phantastischen Rufen („Stelmako! Stelmako! Obrotak! Obrotak!“) in Herz, Leber oder Milz energetisch wieder aufladen. Einfühlung in die Rolle à la Soz- Art.
Das Theater, das dieses Stück uraufführt, wird sich auf alle Zeiten vom herkömmlichen Tschechow-Repertoire trennen wollen, sollte man meinen. Die Stoffe werden als Soap-operas, der psychologische Realismus als wahrer Formalismus enttarnt sein, Tausende von Büchern können auf den Müll. Eine Radikalabrechnung mit dem klassischen Erbe eben, die der junge Dresdner Oberspielleiter Hasko Weber wohl mit Bedacht am 9. November auf den Spielplan gesetzt hat. Und daß Carsten Ludwig Regie führte, der an diesem Theater zu DDR-Zeiten als Assistent weitgehend ruhiggestellt war und sich seit einigen Jahren mit stilistisch konsequenten Sorokin- Uraufführungen einen Namen gemacht hat, mußte als Akt der späten Anerkennung gelten. Ein schöner Gedanke.
Nun ist es aber so, daß Carsten Ludwig eigentlich programmatisch mit einem überwiegend nicht-professionellen Ensemble arbeitet. Die Rituale des Alltags, deren formalistische Perversität etwa in Sorokins Erzählungsband „Der Obelisk“ zutage tritt, ließ er 1993 komische Laientheater-Kollektive vollziehen, deren donnernden Chören – das Volk hat immer recht! – sich niemand entziehen konnte. Jetzt aber bürdete er sich auch einen Packen von acht Staatsschauspielern auf, und selbst wenn Christian Maria Goebel dabei ist, der schon Sorokin- und Ludwig-erprobt ist – Staatsschauspieler fügen sich nicht ohne weiteres in ein Kollektivkonzept. Und so versuchte Carsten Ludwig einen Kompromiß.
Die Anfangsrede ließ er von einzelnen Darstellern seiner eigenen Truppe abschnittsweise vortragen, andere saßen im Publikum und lieferten im Chor Zwischenrufe. Das sorgte gleich für Stimmung, und weil nicht das zehn-, sondern aktuellerweise das fünfjährige Jubiläum gefeiert wurde, trafen Sätze wie „Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber mir ist bei dem Gedanken ein bißchen mulmig“, auf sächsisch genuschelt von DurchschnittsbürgerInnen im geblümten Blauen etwa, mitten ins Schwarze.
Beim Tschechow-Potpourri jedoch räumte Ludwig den Staatsschauspielern völlig das Feld. In einer Abstellkammer für Gemälde mit diversen Tschechow-Motiven (Ausstattung: Juan León) spielen sie tatsächlich Tschechow vom Blatt.
Was hier doch lediglich ausgestellt werden sollte, gewinnt unversehens die Oberhand und drängt den Regisseur samt Konzept in die Kulisse. Das Protein – oh Schreck! – ist tatsächlich wirksam! Kein Slapstick ergibt sich vor oder nach dem Schrei in die inneren Organe, die routinierte Echtheit der Gefühlsausbrüche siegt letztlich über den komisch collagierten Text. Und daß sich Siegfried Worch als Iwanow am Ende nicht erschießt, sondern über ein riesiges, schwabbelndes Organ stolpert, wobei sich ein Schuß löst, rettet die Sache auch nicht mehr. Boykott oder Unfähigkeit? Sorokin ohne Konsequenzen und Ludwig ohne Konzept – das macht zusammen kaum mehr als eine mäßig heitere Farce. Kein schöner Gedanke.
Die wahre Haltung des sächsischen Staatstheaters zu Erbe und Jubiläum spiegelt vielleicht doch eher der McDonald's-Stand im Foyer. Der gehöre zur Aufführung, hatte die Pressedame etwas verschämt gesagt. Mit russischsprachigen Speisekarten versehen, sollte er wohl als zeitgemäßes Monument des „Allrussischen kulturökologischen Programms ,Wiedergeburt‘“ des Tschechow-Kombinats im Stück verkauft und angeprangert werden.
Der Versuch, den Kapitalismus mit den eigenen Waffen zu schlagen, geht jedoch insofern nach hinten los, als das rot-gelbe Signet auch auf der Rückseite des Programmhefts zu finden ist. Das stärkt letzten Endes eben doch nur das Säckel und gibt der Kunst bestenfalls einen Holzhammer mit auf den Weg.
Was bleibt? Tatsächlich die Fortführung der „ruhmreichen Tradition der Dresdner Tschechow-Inszenierungen“, wie es in der Ankündigung wohl doch gar nicht ironisch heißt, anmoderiert von den lustigen Ludwig-Laien, die beim schütteren Schlußapplaus auch erst später auf die Bühne durften.
Hat man nun der Kapitulation eines konsequenten Regisseurs vor der einstigen Übermacht des Apparats beigewohnt? Oder hört die Risikobereitschaft am sächsischen Staatstheater wirklich auf, wenn es an die eigene Substanz gehen soll? Der Dresdner McDonald's-Niederlassung dürfte das egal gewesen sein, das Bedürfnis nach klassischem Burger-Protein nach der Aufführung war enorm.
Nächste Vorstellungen am 17./18.11., 19.30 Uhr, Staatsschauspiel Dresden, Kleines Haus. Das Stück ist 1993 im Verlag der Autoren erschienen, Übersetzung: Peter Urban.
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