■ Ökolumne
: Toller Prometheus Von Manfred Kriener

KARIN kann sprechen. Ihre Stimme ist weder weiblich noch männlich. Sie spricht emotionslos, vollsynthetisch. „Achtung Baustelle! Fahren Sie rechts! Links! Im Kreisverkehr die dritte Ausfahrt!“ KARIN ist ein kraftfahrzeugautonomes Zielführungs- und Navigationssystem. Bevor Sie in der Mozartstraße von Castrop-Rauxel losdüsen, tippen Sie in die digitale Straßenkarte ihren Standort ein und als Ziel die Adresse von Tante Erna. KARIN lotst Sie dann auf schnellstem Weg zur Goldenen Hochzeit. Keine überflüssigen „Suchfahrten“, kein Stau, keine Probleme. Sagt die Automobilindustrie.

Und KARIN ist erst der Anfang. Irgendwann im Jahr 1999 wird alles gut. Dann, szenariert das Bunte- Bilder-Blatt Focus, sind „alle Verkehrsprobleme gelöst. Satelliten schweben über Kreuzungen und dirigieren Autos über freie Fahrspuren. Kollisionen sind abgeschafft. Verkehrsopfer gibt's nur noch im Märchen.“ Jeder Golf verfügt dann zusätzlich zur Rallyestreifen- Erotik über Mikrowellenradar und allerlei Infrarotgerätschaft, ist mit Nebel-, Nässe- und Abstandssensoren bestens ausgerüstet, hat eine Gas-weg-Automatik, integrierte Ortungshilfe, Notbremssysteme, kommuniziert über Info-Baken am Straßenrand ununterbrochen mit Verkehrsüberwachungszentralen und ist vollgepackt mit Videokameras und Bordcomputer.

Das System sorgt auf überfüllten Autobahnen für engsten Abstand zum Vordermann und gleichmäßigen Verkehrsfluß, notfalls überholt es auch vollautomatisch, während wir die Landschaft genießen. Sagt die Autoindustrie.

In Paris hat sie jetzt ihre elektronischen Errungenschaften vorgestellt — zum Abschluß des Prometheus- Projekts. Prometheus war „der Vorausdenkende“. Die PS-Branche benutzt den mythischen Ur-Rebellen als Kürzel für ihr „Programm for European Traffic with Highest Efficiency and Unprecedented Safety“. Mit 1,5 Milliarden Mark hat die Autozunft acht Jahre lang die elektronische Zukunft des Individualverkehrs erforscht. Herausgekommen sind kühne Visionen, manch brauchbare, aber teure High-Tech-Spielerei und jede Menge heiße Luft.

Nur wenige diser Systeme sind morgen schon anwendbar. Und bezahlbar. Allein KARIN kostet 4.000 Mark. Abstandssensoren, automatisierter Verkehrswarnfunk oder die „sprechende“ Digitalkarte scheinen nochFoto: Georgios Anastasides

am ehesten praxisreif. Der Rest bleibt Science-fiction. Doch Prometheus ist längst mehr als nur Forschung. Es ist ein ideologischer Turbolader, ein High-Tech-Heilsversprechen gegen den Stau, eine Generalausrede für unterlassene Verkehrspolitik. Keine Festrede des Verkehrsministers, keine Tagung, auf der nicht die intelligenten Leitsysteme als Ausweg aus der Krise beschworen werden. Prometheus ist der letzte Versuch, die Autogesellschaft zu retten. Bis zum Jahr 2010 soll die Autoschlange nochmals um 50 Prozent zulegen. Selbst wenn Elektronik und Leitsysteme die Effizienz des Verkehrs tatsächlich um 20 Prozent verbessern: Der Stau wird weiter wachsen. Die neue Technik wird nur das Tempo verlangsamen: Die Zunahme nimmt ab! Für das notwendige Verkehrssparen gibt Prometheus keine Impulse. Im Gegenteil: Die Illusion der freien Fahrt wird aktualisiert und mit High-Tech-Müll gefüttert.

Die neue Autotechnik hat aber noch andere, brisante Folgen. Sie beendet die Autonomie des Automobilisten. Die freie Fahrt bleibt nicht nur im Stau auf der Strecke, sondern auch dann, wenn der unsichtbare Arm der Elektronik Steuer und Gaspedal an sich reißt. Stellen Sie sich vor, sie drücken aufs Tempo und nichts bewegt sich. Der entmündigte Fahrer. BMW sieht bereits bittere Konsequenzen und warnt vor dem Verlust selbstbestimmter Mobilität. Autos ohne Chauffeur, schrecklich! Zu Ende gedacht, kann dies eine durchaus beruhigende Vorstellung sein: Das vollelektronische Auto braucht nämlich keine Insassen. Sie lümmeln zu Hause gemütlich im Sessel, während ihr Golf am Kamener Kreuz um jeden Meter kämpft. Eine Kamera überträgt die Bilder in Echtzeit auf ihr TV. Sie sitzen davor und kippen sich eine Spätlese hinter die Binde. Großartig! Toller Prometheus!

Übrigens: Welcher Unterschied besteht eigentlich zwischen einer Autoschlange, die von der Elektronik Stoßstange an Stoßstange über die Autobahn geführt wird und einem Zug? Antwort: Der Zug hat einen Speisewagen!