Sanfte Schläge aus der Provinz

Städtische Coolness, ländliche Folklore und eine Kamerafahrt durch rotglänzende Magenwände – Die Ausstellung „Le Shuttle“ zeigt multikulturelle Metropolenkunst zur Zeit im Berliner Künstlerhaus Bethanien  ■ Von Brigitte Werneburg

Ein Zufall: Dank diverser Baumaßnahmen im öffentlichen Nahverkehr fährt man mit dem Shuttle-Bus zum Ort der Ausstellung „Le Shuttle – Tunnelrealitäten Paris London Berlin“. Das hat so seine Tücken. Fürchterlich eng ist es, der Fahrer will nicht fahren, weil die Bustüren angeblich nicht schließen. Nichts bewegt sich. Das Chaos bringt eine großstädtische Tugend zum Vorschein: unbefangen und stoisch auf den Einbruch des Unerwarteten zu reagieren.

Diese Haltung bewährt sich auch angesichts der totalen Installation von Chohreh Feyzdjou im Künstlerhaus Bethanien – einer rußschwarzen Grabkammer. Die in Teheran geborene und in Paris lebende Künstlerin hat ihre Arbeiten seit 1968 nebst Materialien wie Keilrahmen, Pinseln und Nägeln mit schwarzem Pigment in Wachs einbalsamiert, auf Regale und Stellagen sortiert, zu Rollen gewickelt und dabei das paradoxe Bild eines Teppichlagers im Kohlenbunker entworfen. Die Wucht der schieren Masse der hier versammelten Dinge, von winzigen Kokons bis zu massiven Bildrollen, empfindet man keineswegs nur als erschreckend und monströs. Eher ist mit diesem etwas abseitigen Basar das Vergnügen an einer Schatzkammer verknüpft.

Glamourös entgegengesetzt scheint das flammend rote Gerbera-Fenster von Anya Gallaccio aus London. Doch selbst die gleichmäßig zwischen zwei Scheiben gepreßten 950 Blütenstengel, ein monochromes Farbfeld von strikter Absolutheit, steuern nurmehr ihrer Verwesung in Schwarz entgegen. Und „Black“ ist auch der Titel eines Kreisfelds zerbrochener Glaslüster, das Lucia Nogueira vor dem Fenster ausgelegt hat.

Nicht so recht in diesen Raum paßen die Triptychen und Diptychen des Berliners Thomas Florschuetz. Die großen Cibachromes sind aufwendig konzipiert, sie detaillieren ein geschlossenes Augenlid als eine pure Foto-Oberfläche. Dieser emphatischen Körper- Fotografie fehlt ein Moment des Robusten, auch des Trivialen, das die Arbeiten der anderen Künstler charakterisiert, die zwar international, „aber deutlich unterströmig präsent sind“, wie die Ausstellungsmacher.

Im schnellen, freundschaftlichen Schlag, dem Bodycheck, liegt vielleicht die alltagsweltliche Analogie zum künstlerischen Anstoß, mit dem die Ausstellung überzeugt. Da dürfen die den Werken zugrundeliegenden Ideen auch einmal weniger raffiniert sein. So läßt der in Berlin lebende Spanier Chema Alvargonzález in der Treppenzone des Studio I, einer kleinen Kapelle, Bücher zwischen Schraubzwingen die Wand hochwachsen, schwarze Stromleitungen entlang, die die Neonschrift der Worte wie „rereading“, „wohin?“ oder „Dunkelheit“ zum Leuchten bringen. Wie immer man es dreht und wendet, die Assoziationen zu solchen Licht-Worten und den zugeschraubten Büchern enden in einer recht banalen Metaphorik. Interessant bleibt die Installation „Zeit lesen I und II“ vielleicht nur, weil ihre Differenz zur Schaufensterdekoration einer ambitionierten Buchhandlung haarfein ist und zu der Überlegung zwingt, wieviel individuelles Kunst-Pathos heute noch zulässig ist. Für das Enfant terrible der schicken Londoner Kunstszene ist diese Frage längst beantwortet. „The Spirit of Gavin Turk“, ein Selbstbildnis in Form einer Bronzestatuette, soll an junge Künstler verliehen werden. Sarkastisch verweist die Oscar-Imitation auf den gewaltigen Apparat, der in Bewegung gesetzt wird, diese Toiletten- Trophäe zu gewinnen.

Tatsächlich ist der Gavin-Turk- Kunstpreis ein Insider-Witz, mithin eine provinzlerische Angelegenheit, die sich weltläufig gibt. Und das trifft den Geist der Metropolen, ob London, Paris oder Berlin ganz gut; ihre Art und Weise in träger Schlamperei und kommerzieller Dynamik, in provinziellem Verharren und international ausgerichteter Offenheit ihre Probleme kleinzukriegen. Mehr schlecht als recht, aber eben auch dort, wo die Feinde der multikulturellen Gesellschaft für die unmöglichen, weil prinzipiellen Lösungen plädieren. Dies dokumentieren die Schnappschüsse, Montagen und inszenierten Fotos, die Florian und Isabelle Florisa einem der letzten Kieze in Paris, der „Goutte d'Or“, am Fuß von Sacré C÷ur widmeten. Das Viertel wird seit 1990 grundsaniert und droht dabei seine charakteristischen Züge zu verlieren, die es heute überwiegend nordafrikanischen Bewohnern verdankt. Die Mischung aus städtischer Coolness und ländlicher Folklore, die sich in den imposanten Gesichtern, Trachten und Gesten der Einwanderer widerspiegelt, beseelt durchgängig alle Arbeiten zu „Le Shuttle“.

Shen Yuan, die 1990 von China nach Paris übersiedelte, stellt für ihre Arbeit „Seinen Speichel verlieren“ neun Spucknäpfe der Wand entlang. Über ihnen schmelzen große, aus Cola-Eis geformte Zungen, übrig bleibt schließlich der Stiel, ein Küchenmesser. Ausspucken und Zungezeigen scheinen ebenso bäuerische Angelegenheiten wie urbane Aggressionsgesten zu sein. Micha Laury, der in Israel aufwuchs und nun in Paris lebt, entdeckt den nomadischen Menschen im armseligen Obdachlosen. Und die französische Folklore um die Trikolore inszeniert Olivier Zabat in der bösen Minimal-Installation dreier Stabtaschenlampen (blau, weiß und rot leuchtend) auf einer Wachschutzkoppel. Mit Gillian Wearing, Georgina Starr, Pjotr Nathan, oder Jane & Louise Wilson haben die Ausstellungskuratoren weitere Künstler eingeladen, die „Prioritäten eher dort setzen, wo Ethik und Ästhetik näher zusammenrücken“. Ethik und Ästhetik müssen dabei nicht notwendigerweise in Political correctness enggeführt werden. Die Palästinenserin Mona Hatoum transplantiert kühl und kühn die Medizintechnik zur Erforschung des Fremden im Eigenen in die Kunstpraxis ihres begehbaren Videoprojektion-Zylinders „Corps Étranger“. Plötzlich beantwortet sich die Frage nach der spezifischen, zeitgenössischen Erscheinungsweise von Schönheit in Hatoums Magen. Die Kamerasonde zeigt Bilder von enorm farbiger Pracht, glitzernd nasse Schlünde, orangerot, blutrot, aber auch überraschend mittelmeerisch Himmelblau. Begleitet von Atem- und gurgelnden Wassergeräuschen dringt die ästhetische Invasion dennoch nie ins Zentrum vor – existiert es überhaupt? Erschreckend ist jedenfalls eher die Peripherie, nämlich die weißen Zähne, die plötzlich und unerwartet, unerwartet trocken, aus der rosafarbenen Nässe auftauchen.

Le Shuttle, bis 27. November, Künstlerhaus Bethanien, Berlin