Beten für eine Tradition

Die Landesregierungen von Baden-Württemberg und Thüringen versprechen Hilfe für den Zeiss-Konzern. Vor den Werktoren demonstriert die Belegschaft  ■ Aus Jena Detlef Krell

Fünf vor zwölf ist eine gute Zeit. Ihr Symbolwert, schon etwas abgegriffen, steht bei der Gewerkschaft hoch im Kurs. Schlag zwölf heißt: 3.000 fliegen bei Carl Zeiss in Jena und Oberkochen auf die Straße. So steht es immer noch im Sanierungskonzept des Managements. Noch meint der Jenaer Betriebsratsvorsitzende Jürgen Dömel zuversichtlich: „Die Stimmung ist eher explosiv denn wankend!“

Am 24. November wird der neue Vorstandssprecher Peter Grassmann sein Amt übernehmen. Der einstige Siemens-Manager soll wissen, woher der Wind weht. Am Vortag wollen sich alle Zeissianer in Oberkochen zu einer noch nicht näher beschriebenen „Aktion“ einfinden.

Vergangene Woche standen die Belegschaften aller Zeiss-Standorte vor den Werktoren. 3.500 im schwäbischen Oberkochen, 2.000 in Jena, wo Carl Zeiss 1846 eine mechanische Werkstatt eröffnet hatte. Hier begann die Geschichte der Weltfirma, die sich als Stiftung auch sozialreformerischen Zielen verpflichtete. Sie reizt zu bitteren Kommentaren: „Zur 150-Jahr- Feier“, höhnt einer, „können wir die letzten Zeissianer im Museum bewundern.“

Mit starken Sprüchen machen sie sich Mut. Sie lassen sich „das Fell nicht über die Ohren ziehen“. Der Träger des Transparents fragt seinen Nebenmann: „Was steht bei dir?“ – „Wir betteln nicht, wir kämpfen“ – „Ja, das ist auch nicht schlecht!“ Unter den handgemalten Pappschildern geht Angst um. Mit Namen und Hausnummer mochte sich kaum jemand zum „Kahlschlagkonzept“ äußern. „Unvorstellbar“ ist es für drei junge Kolleginnen, „daß nur noch 700 Leute bleiben sollen“. Zwei Angestellte rätseln: „Man ist gar nicht richtig informiert, um sich eine vernünftige Meinung bilden zu können.“

Ihre Meinung ist ja auch nicht gefragt. Noch nicht einmal die ArbeitnehmerInnenvertreter im Jenaer Aufsichtsrat durften das Sanierungskonzept studieren. Aber beschließen sollten sie es, auf einer Sitzung des Kontrollgremiums am vergangenen Donnerstag. Ralf Tänzer, IG-Metall-Bevollmächtigter und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender, muß mitteilen, daß diese Sitzung nun „auf unbestimmte Zeit verschoben“ wurde.

Vor der Blamage die Flucht, denn das „Abbaukonzept“ hätte keine Mehrheit bekommen. Hineinschauen durfte bisher nur der Betriebsrat. „Was wir erahnten“, ruft Jürgen Dömel, „hat sich dramatisch bestätigt.“ Die beabsichtigte Entlassung von 600 JenaerInnen las sich schwarz auf weiß als das kleinere Übel. „Tod auf Raten“ sei das, schimpft Dömel, Jena von einst 2.450 auf 1.400 bis 700 Stellen abzubauen. „Das ist das Ende des Traditionsunternehmens.“

Die hochqualifizierten Fachleute wollen keine „Sterbehilfe“ leisten. „Jena gegen den Rest der Welt“, heißt es auf der Kundgebung vor dem Werktor. Nun auch noch Zoff in den eigenen Reihen. Als „Unverschämtheit“ geißelt Betriebsrat Dömel die vom Betriebsrat der Zeiss-Tochter Schott Glaswerke, Hugo Schäfer, erteilte Belehrung, „sofort an den Verhandlungstisch zu kommen und alles zu unterlassen, was den Namen Zeiss schädigt“. Verhandelt wird erst, wenn alle Karten auf dem Tisch liegen. Alternativen zum Schrumpfkurs sucht die vom Ministerpräsidenten Bernhard Vogel (CDU) eingesetzte Expertenkommission. „Tragfähige Geschäftsfelder“ fordert Tänzer. Er stellt klar: Die werden nicht im Niemandsland zu finden sein. „Es gibt ein Oberkochen, das von uns nicht bestritten wird. Aber es gibt auch Jena.“

Das heißt: Abgeben an den Osten. „Unter 2.000 geht hier nichts mehr!“ Jürgen Dömel wiederholt die noch im Januar vom Vorstand zugesicherte Stellenzahl wie eine Beschwörungsformel, die wohl auch gegen die Unsicherheit unter den Versammelten helfen soll. „Fürchtet euch nicht“, bittet er die KollegInnen, von denen er, Zeissianer seit 1965, die meisten lange kennt. Am selben Morgen war über die IG Metall eine Nachricht gekommen: In Oberkochen habe die Geschäftsführung in einem Rundschreiben mit „arbeitsrechtlichen Schwierigkeiten“ gedroht. Wer sich an Aktionen beteilige, habe die Folgen zu tragen, lautet der „Hinweis“ aus der Chefetage. „Wir werden“, versicherte IG-Metaller Ralf Tänzer, „weder eine Abmahnung noch so freundliche Hinweise hinnehmen.“

Jena gegen den Rest der Welt – da soll wenigstens diese Stadt mit ihren 100.000 EinwohnerInnen zusammenhalten. Für Montag, den 21. November, hat die IG Metall zu einem Runden Tisch eingeladen, den Oberbürgermeister und den Pfarrer, den Rektor der Friedrich- Schiller-Universität und den Betriebsrat ... „Stadt und Uni sind ja Nutznießer der Zeiss-Stiftung“, sagt Tänzer. „Es reicht nicht mehr, wenn nur wir demonstrieren. Dazu kann auch mal der Pfarrer von der Kanzel predigen und für Zeiss die Glocken läuten.“