Mit Ligeti auf Du

■ Ulrich Dibelius schreibt über den Komponisten

Das „Altern“ der neuen Musik (Adorno) hat eine sehr praktische Bedeutung bekommen. Kaum hat man sich an die Neutöner als rebellische Jünglinge gewöhnt, da haben sie auch schon das Pensionsalter überschritten. In den Reihen der großen europäischen Avantgarde-Komponisten zieht das Alter ein. Pierre Boulez wird 1995 seinen 70sten Geburtstag feiern, im vergangenen Jahr tat dies der in Hamburg lebende und an der hiesigen Hochschule lehrende Komponist György Ligeti. Zeit für eine Biografie also.

Ein Buch über einen lebenden Komponisten zu schreiben, zumal über einen, der sicher deutlicher als viele seiner Kollegen ein unberechenbarer „composer in progress“ ist, stellt ein Risiko dar. Ulrich Dibelius ist das Wagnis eingegangen. Die große Ligeti-Biographie liegt dennoch nicht vor, stattdessen eine „Monographie in Essays“. Skizzenhaft tastet sich der Autor von Werk zu Werk, von einer ästhetischen Wende zur nächsten.

Abgesehen von seiner momentweise verschraubten Gelehrtensprache (Ein Beispiel: „Derart eng sind jedenfalls die Grenzen gezogen, sofern sich die Musik anschickt, ihren Materialeinsatz auf ein Minimum zu reduzieren oder nur eine einzelne, isolierte Schicht ihrer physischen Existenz insonderheit hervorzukehren.“) gelingen Dibelius metaphorische Balanceakte, die mit einem gewissen saloppen Schwung der musikalischen Fachsprache den Schrecken rauben und für Anschaulichkeit sorgen.

Natürlich setzt dieses Buch einige musikhistorische Kenntnisse voraus. Doch selbst der fachlich unbeleckte Leser kann getrost die eine oder andere Seite überblättern und wird trotzdem nicht das Gefühl haben, sich durch ein Fachbuch durchgeschummelt zu haben. Diverse Photographien trösten über so manche trockene Notenlandschaft hinweg.

Trotz der mystifizierenden Ausschließlichkeit, durch die der Autor teilweise etwas untertänig wirkt, ist Dibelius ein kenntnisreiches und sehr informatives Buch gelungen, das auch die jüngeren Konzerte für Klavier und Violine ohne musikwissenschaftlichen Ballast und dennoch nicht zu metaphernlastig dem Leser zum Hören geradezu aufdrängt.

Das letzte Kapitel, für das Dibelius die Form eines Gespräch zwischen ihm und Ligeti wählte, gibt dem Buch schließlich den nötigen authentischen Charakter. Es ist eine sehr persönliche Unterhaltung, die zwei Freunde führen, die sich seit 35 Jahren kennen. Aus diesem Grund vermißt man hier Statements, die der komplexen und widersprüchlichen Persönlichkeit Ligetis etwas Kontur und Plastizität verliehen hätten. Die inhaltlichen Überraschungen bezogen auf die Ästhetik Ligetis halten sich in Grenzen, gleichwohl einige zentrale Bemerkungen gemacht werden, die ein mitunter neues Licht auf die Vielgestaltigkeit zeitgenössischer Musik werfen könnten. So erfährt der Leser, daß Ligeti ein Jazz-Fan ist und seine Oper Grand Macabre einen Beitrag zur Pop-Art darstellt.

Das große Verdienst dieses Buches liegt somit darin, die Neugier auf einen zentralen Komponisten der Avantgarde geweckt zu haben, dessen unorthodoxes Kompositionsprinzip lautet: „Es ist eine Suche nach alternativen Möglichkeiten, eine neue Musik zu machen, die keine Rückkehr zum 19. Jahrhundert ist, die aber nicht mehr den Normen der Avantgarde entspricht.“

Sven Ahnert

Ulrich Dibelius: Ligeti – Eine Monographie in Essays; Schott, Mainz 1994, 68 Mark