Generation Malcolm X

Garage, Sportplatz, Philharmonie: Das diesjährige Berliner JazzFest kehrt nach allerlei Fusion, Noise und Rock 'n' Roll zur „Great Black Music“ der sechziger Jahre zurück  ■ Von Christian Broecking

Nur wenige der Überlebenden der schwarzamerikanischen Freiheitsbewegung der sechziger Jahre sind ihrem Engagement treu geblieben. Einer ist der afroamerikanische Poet, Aktivist und Professor für African Studies Amiri Baraka. Noch heute sagt er: „Wir brauchen eine Kulturrevolution in den USA, und die Musik ist unser revolutionäres Kommunikationsmedium, lokal und global. Black Music ist das Vehikel schwarzer Selbsterziehung.“

Barakas Einfluß und Initiative ist es zu danken, daß das diesjährige Berliner JazzFest, das von morgen bis Sonntag im Haus der Kulturen der Welt stattfindet, zu einem Festival zu werden verspricht, wie es so in den kulturkonservativen USA von heute kaum denkbar wäre. „Great Black Music“ lautet das Thema. Der in diesem Jahr scheidende JazzFest-Leiter George Gruntz kam damit auch einer Kritik Barakas nach: Jahrelang sei das Programm von weißer „Fusion“ geprägt gewesen, Schwarze nur am Rande geduldet.

Schon in den Sechzigern – als Wortführer des Black Nationalism, des Schwarzen Kulturnationalismus – hatte Imamu Amiri Baraka die schwarze Mittelschicht für ihre Anpassung an die weiße Kultur kritisiert. Baraka, der damals gerade seinen Sklavennamen Leroi Jones ablegte, prägte den Begriff der „Black Music“ als genuin „schwarze“ Politik: Musik als direkter Ausdruck von Black Power, Musik als Protest gegen soziale und rassistische Diskriminierung. Diese Form des Ausdrucks ist per definitionem nicht-kommerziell, Schwarze werden für Baraka zur „in Wahrheit progressiven Klasse“, die allerdings der Black Community verpflichtet bleibt – als ihr Sprachrohr und ihre Avantgarde.

Es ist nur konsequent, daß Baraka, der mit seinem Black-History-Music-Projekt „Blue Ark“ auch als Interpret beim JazzFest engagiert ist, am Freitag gegen „too much sick music“ und „too much bourgeois booty freaks funkin up our mindways“ anreden wird – „sick raps come from this very sick society / we need to hear about strong people, struggle and success / we need to hear about you and me risin and winnin.“ Aber auch andere aus der Malcolm-X- Generation. Über die Bedeutung der (Jazz-)Poetress Jayne Cortez für die politische und musikalische Ausbildung der Free-Jazz-Revolutionäre aus Watts Ende der fünfziger Jahre – darunter ihr einstiger Ehemann Ornette Coleman – sagt der Jazzmusiker Don Cherry heute: „She was my Guru.“ Cortez rezitiert zum Funk-Jazz ihrer Coleman-Sidemen The Firespitters Gedichte, die sich engagiert gegen Rassismus und Sexismus wenden: „I confess / I am armed and prepared / to reproduce the love that made me live / I confess that this beautiful Nigguh is ready.“

„Poetry is the language of the future“ ist das Motto der Aktivisten vom Nuyorican Poets Cafe, einem Loft in der Lower East Side Manhattans – „the house for the tradition that has no home but your ear“. In „Please Don't Take My Air Jordans“ kommentiert Reg. E. Gaines am Samstag die eher alltäglichen Bedürfnisse und Probleme heutiger Kids, die für ein Paar Baseballschuhe zu Killermaschinen werden.

Ein Musiker der jüngeren Jazz- Generation, der Klarinettist Don Byron, zeigt am selben Tag in seinen „Tuskegee Experiments“ eine andere Variante afroamerikanischer Erfahrung: Die Musik umkreist das vierzig Jahre währende Syphilis-Experiment an 200 nicht infizierten und 200 infizierten schwarzen Männern, die nicht behandelt wurden, und das sogenannte Luftfahrt-Experiment, bei dem an den Reaktionen hochqualifizierter Schwarzer auf spezielle Demütigungen abgelesen wurde, ob sie vertrauenswürdig genug seien, amerikanische Militärflugzeuge zu steuern – für Byron allles Metaphern für das Leben der Afroamerikaner: Ihr Leben ist einerseits billiger, andererseits müssen sie „intelligenter, besser, höher qualifiziert sein, damit man ihnen überhaupt eine Chance gibt“.

Der fast siebzigjährige marxistische Free-Jazz-Trompeter Bill Dixon, der vor dreißig Jahren die New Yorker Oktober-Jazz-Revolution initiierte, wird ein JazzFest- Thema beschließen, das auch ein wenig nostalgisch an die Sechziger erinnert, als Leute wie Baraka Symbolfiguren waren und der Jazz auch hierzulande noch stärker mit Protest konnotiert war, gerade auch – man mag es kaum glauben – aufgrund des Engagements von Leuten wie Joachim Ernst Berendt. In einer Grußadresse zu den ersten Berliner Jazztagen, die Berendt 1964 gründete, hatte tatsächlich Martin Luther King persönlich die Bedeutung der schwarzen Jazzmusiker als kulturelle Identitätsstifter für das schwarze Amerika hervorgehoben. Die Jazzmusik „gab der afroamerikanischen Freiheitsbewegung Kraft und Mut“, schrieb King damals, und: „Wenn Jazz heute in der ganzen Welt gespielt wird, dann deshalb, weil der besondere Kampf des amerikanischen Negers dem universellen Ringen des modernen Menschen um Selbstfindung unmittelbar verwandt ist.“

Ob beim diesjährigen JazzFest mehr als die Erinnerung an bessere Zeiten rumkommt, muß man halt abwarten. Zu hoffen ist, daß nicht nur mit großen Worten zum in die Jahre gekommenen „New Jazz“ die krisengeschüttelte Black Community als potentiell solidarische Interessengemeinschaft von 35 Millionen Afroamerikanern gefeiert wird. Denn der Traum von der großen Einheit ist längst an den Tatsachen der politischen Ökonomie zerbrochen – was auch an der aktuellen afroamerikanischen Diskussion um Black Leadership abzulesen ist, die der akademische Superstar im Black-Culture-Diskurs Henry Louis Gates jr. kürzlich in der Wochenzeitschrift The New Yorker eröffnete.

Wie Baraka vor dreißig Jahren, widmet sich auch Gates der

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schwarzen Mittelklasse. Gates sieht das „schwarze“ Amerika von heute jedoch nicht nur ebenso gespalten wie das weiße, die Risse sind seit den Sechzigern noch tiefer geworden – und zwar gerade durch Teilerfolge. Das Vivil-Rights- Movement hat zu einer Vervierfachung der schwarzen Mittelschicht seit 1967 geführt, allein in den achtziger Jahren verdoppelte sie sich. „Niemals zuvor ging es so vielen Schwarzen so gut“, schreibt Gates, „und nie zuvor gab es soviel schwarze Armut. Mit der Integration desintegrierte das schwarze Amerika.“ Gates bezeichnet einen schwarz-romantischen Nationalismus, wie ihn auch Baraka in seiner afrozentristischen Chairman-Mao- Version vertritt, als endgültig überlebt. Die Klassenunterschiede innerhalb der Black Community würden von ihren Repräsentanten nur halbherzig diskutiert, weil sie das Konzept einer solchen Community grundlegend in Frage stellen. Gates: „Black America braucht heute einen Diskurs über Rasse, den wir noch nicht hatten: einen Weg, über schwarze Armut zu sprechen, ohne die Realität schwarzer Mobilität zu negieren; einen Weg, über schwarze Mobilität zu sprechen, ohne die andauernde Realität schwarzer Armut zu verzerren.“

Gates ist im heutigen Amerika die entschieden zeitgemäßere Figur als Baraka, der immerhin in den Siebzigern noch auf der Liste der „100 Most Influential Black Americans“ zu finden war, wie sie alljährlich von der schwarzen Zeitschrift Ebony veröffentlicht werden. Seine teilweise antisemitischen Äußerungen von einst hat Amiri Baraka heute gemäßigt, an seiner radikal anti-weißen Haltung hält er gerade angesichts der heutigen Popularität schwarzer Musik fest. „Nichts bleibt, außer daß wir ausgebeutet werden – das hat sich trotz allem nicht geändert. Spiel lieber Gitarre oder Klavier in der Garage, auf dem Sportplatz oder irgendwo in der Nachbarschaft als in irgendeiner dieser Plattenindustriehallen.“

Nun, so kommerziell ist das JazzFest bestimmt nicht. In Berlin wird an den folgenden Tagen zu zeigen versucht, daß der Kampfgeist der Martin-Luther-King-und- Malcolm-X-Generation zumindest in der oral tradition der Great Black Music überlebt hat, und das – Ironie des Schicksals – vor überwiegend weißem Auditorium.

JazzFest Berlin: 16. bis 20.11. im Haus der Kulturen der Welt.