„Erster Vorgeschmack auf den Castor“

Anschläge legten Bahnstrecken um Hannover lahm / Grenzschutz fand anonymes Bekenner-Flugblatt / Landesinnenminister macht den Bundesumweltminister verantwortlich  ■ Aus Hannover Jürgen Voges

Das Chaos dauerte von zwei Uhr in der Nacht bis zum Mittag. „Ab 12.54 Uhr hatten wir auch das letzte Gleis wieder frei“, konnte der Sprecher der Deutschen Bahn erst am Nachmittag feststellen. Anschläge anonymer AKW-Gegner auf sechs Bahnstrecken rund um Hannover hatten „Verspätungen im Fernverkehr von bis zu drei Stunden“ und im „Nahverkehr von bis zu 60 Minuten“ produziert.

„Wir haben auf jeden Fall mehrere hunderttausend Mark Sachschaden“, sagt der Bahn-Sprecher. An fünf Stellen war die Oberleitung gerissen. Viele zehntausend Berufstätige dürften zu spät gekommen sein. Daß die Aktionen sich tatsächlich gegen den ersten Transport von hochradioaktivem Müll nach Gorleben richten, schließt der Bundesgrenzschutz aus Flugblättern, die an einem der Tatorte gefunden wurden: „Castor-Alarm TagX – Wir stellen uns quer“, stehe schwarz auf gelb auf den gefundenen Zetteln, sagte ein Sprecher der Bundespolizei. Die über die Oberleitungen geworfenen Anker, die den Bahnbetriebsstopp verursacht haben, nennt er „schon eine Sonderanfertigung“. Das seien fingerdicke U-förmig gebogene Eisen, die eine seitliche Führung und eine Art Schnapper, einen extra Schließmechanismus, hätten, der ein einfaches Herunterfallen von den Oberleitungen verhindere.

Nur auf einer der insgesamt sechs betroffenen Strecken, auf der Schnellbahntrasse zwischen Hannover und Göttingen, sind in der Nacht von Sonntag auf Montag die Anker zufällig von einem Bautrupp entdeckt worden. Auf allen anderen fünf Bahnlinien verhakten sich Elektrolokomotiven mit ihren Stromabnehmern in den Hindernissen. Auf der Fernstrecke Hannover–Hamburg riß auf mehreren hundert Metern die Oberleitung. Schon um 2.22 Uhr war zwischen Hannover und Braunschweig ein Nahverkehrszug in einen Anker hineingefahren.

Der Sprecher des niedersächsischen Innenministeriums sieht in den Anschlägen „nur einen Vorgeschmack auf das, was uns bei dem Transport wirklich erwartet“. Verantwortlich dafür sei der Bundesumweltminister, der „auf Gedeih und Verderb“ den völlig überflüssigen Transport nach Gorleben durchbringen wolle. Die Umweltministerin Monika Griefahn hat endgültig grünes Licht gegeben. Die Bedingungen, mit der sie diese Zustimmung verbinden wollte, finden sich nur noch in dem Anschreiben, das dem Bescheid beigefügt ist. Ministerpräsident Schröder hatte am Samstag in einer ganzseitigen Anzeige in der Elbe-Jeetzel- Zeitung erklärt, daß „es leider keine juristischen Mittel zur Verhinderung des Castor-Transports“ gibt.

Die Bürgerinitiative Lüchow- Dannenberg hat in einem offenen Brief geantwortet: „Wider besseres Wissen hoffen wir noch auf ihre Vernunft, Herr Ministerpräsident. Sollte dieses Hoffen vergeblich sein: Gegen die Unvernunft der Regierenden werden wir uns weiter zur Wehr setzen.“ Eine der Unterzeichnerinnen, die Grünen- Landtagsabgeordnete Rebecca Harms, erinnerte daran, daß in Schröders Vorschlägen für einen Energiekonsens auch eine Zwischenlagerung von hochradioaktivem Müll in Gorleben vorgesehen war. „Die niedersächsische SPD ist nicht grundsätzlich gegen Castor- Transporte, sie will sie nur nicht zu diesem Zeitpunkt“, sagt sie.

Ihr Fraktionskollege Jürgen Trittin verlangt von der SPD-Landesregierung, die Bonner Weisungen einfach zu ignorieren. So verhalte sich schließlich auch Bundesfinanzminister Theo Waigel seit fünf Jahren gegenüber der Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach steuerlicher Freistellung des Existenzminimums.