Kalle Kabitzkes einsame Tänze

■ 25jähriges Bühnenjubiläum nach 25 Jahren Grips-Theater: Dietrich Lehmann im Grips-Stück „Gestrandet vor Guadeloupe“ von Hans Zimmer im Kato

Ein hundekotverseuchter Großstadtspielplatz. Auf einer ramponierten Bank hockt Kalle Kabitzke, ein bemitleidenswerter Obdachloser. Einst versuchte er, sich seine Träume vom Glück durch hemmungslosen Konsum zu erfüllen, danach kamen die Schulden und der Abstieg. Jetzt stellt er sich vor, wie es gewesen wäre, wenn er seinen Schiffbruch vor einer Südseeinsel erlitten hätte.

Ein halbes Jahr nach dem Grips-Geburtstag kann nun auch Dietrich Lehmann in „Gestrandet vor Guadeloupe“ sein 25jähriges Bühnenjubiläum feiern. Seinen ersten Auftritt im Grips hatte der inzwischen 54jährige am 5. November 1969 in „Maximilian Pfeiferling“. Jetzt spielt er den Kalle Kabitzke.

In Berlin leben ungefähr 15.000 Menschen auf der Straße oder in Notunterkünften. Kabitzke ist einer von ihnen. Auf einer alten grünen Plastikbank hat er Quartier bezogen. Seine Lage ist ihm peinlich, er versucht sich wie ein kleiner Angestellter in einer viel zu kurzen Mittagspause zu verhalten. Doch der zwölfjähriger Großstadt-Bengel (René Schubert), der auf der Suche nach Kumpels zum Kicken vorbeikommt, durchschaut ihn sofort als verkleideten „Penner“.

Gekränkt strengt sich der mürrische Alte mächtig an, mit diversen Lügengeschichten sein Renommee aufzupolieren, gibt sich als Undercoveragent aus oder erzählt von seinen „zehn Jahren Erfahrung als Einhandsegler auf einer zwölf Meter langen Yacht“. Da ihm der Junge nicht glaubt, wird der Alte sauer, kidnappt seinen Fußball und erpreßt ihn zum Bierholen. Aber das Grips wäre nicht das Grips, wenn sich die beiden im Laufe des Stückes nicht näher kommen würden.

In den 70 Minuten ohne Pause legt der Grips-Veteran Lehmann mit vollem Körpereinsatz energisch das Tempo vor. „Gestrandet vor Guadeloupe“, vor einem knappen Jahr in Hannover uraufgeführt, ist bestimmt kein starkes Stück, läßt jedoch in der Konzentration auf nur zwei Schauspieler viel Raum für deren spielerische Begegnung.

Leider sucht der Regisseur Michael Heicks die Spannung nicht darin, wie die beiden mißtrauischen Einzelkämpfer kleine Schritte aufeinander zugehen. Ein kurzer Videofilm zu Beginn, der Kabitzkes Weg durch die U-Bahn- Hektik schildert, ist noch recht amüsant, das leibhaftige Auftauchen eines rosaroten Erinnerungsbildes, mit einem parallel laufendem Trickfilmchen wirken jedoch völlig fehl am Platz. Schön sind dafür Kabitzkes einsame Tänze in den musikalischen Zwischenszenen und die Entschiedenheit, mit der die beiden eigensinnigen Figuren nie in freundschaftlicher Sentimentalität aufgelöst werden.

In den letzten 25 Jahren spielte Lehmann, der auch selbst inszeniert und nebenbei noch eine Schauspielschule leitet, in 4.760 Grips-Vorstellungen. Getreu seiner erklärten Absicht: „Die Kinder da abholen, wo sie sind, sie auf eine Reise mitnehmen und die Verhältnisse zum Tanzen bringen“, trat er unter anderem als handfeste Bitterfelder Oma auf, als Familienköter „Onkel Bruno“ und in seiner Lieblingsrolle, als Otto Weidt, Chef einer Blindenwerkstatt, der in der Nazizeit Juden vor der Deportation schützte („Ab heute heißt du Sarah“).

Im Dezember, wenn das Grips wieder zu Hause am Hansa-Platz spielt, kann man Lehmann als gebrechlichen, aber lebensfrohen Rentner Hermann bewundern. In dem herzerweichenden „Linie 1“-Song „Herrlich, zu leben“ singt er dann wieder, wovon der arme Kabitzke noch nicht einmal träumen kann: „Die Treppen bezwungen, dem Sozialamt getrotzt und dem Klassenfeind noch einmal in die Fresse gerotzt!“ Regina Weidele

Weitere Vorstellungen am 18./19./21./22.11. im Kato; U-Bahnhof Schlesisches Tor, Kreuzberg, am 27.11., 1./2./4.12. im Schloßpark-Theater, Wulffstraße 5, Steglitz, Anfangszeiten erfragen, Tel.: 791 12 12.