piwik no script img

Zwischen Bambi und Hamlet

Gerade recht zur Weihnachtszeit: „Der König der Löwen“, Disneys neuestes Megaprojekt, ist ein sturzmoralisches Lehrstück für alle Altersklassen  ■ Von Barbara Häusler

Und schon wieder ein Knüller. Während alle Welt nach der spektakulären Abwanderung des langjährigen Disney-Strategen Jeffrey Katzenberg gespannt darauf wartet, wie er zusammen mit seinen neuen Partnern Steven Spielberg und David Geffen im jüngst gegründeten Studio das Disney-Zeichentrickmonopol knacken will, hat der gebeutelte Mickymaus-Konzern die Schlacht vorsorglich schon mal eröffnet. „Der König der Löwen“ heißt die neue, noch von Trickfilmmaniac Katzenberg auf den Weg gebrachte Megaproduktion, die derzeit alle möglichen Rekorde bricht.

Erstmals startet ein synchronisierter Disney-Film in acht Ländern gleichzeitig, und nach Auskunft der Zeitschrift Hollywood Reporter sind Synchronfassungen in insgesamt sechsundzwanzig Sprachen (!) geplant – darunter Isländisch und Zulu. Die Welt und die Märkte sind schließlich riesig, und mit der russischen Version von „Die drei Musketiere“ und der Hindi-Version von „Jurrasic Park“ hat man exzellente Erfahrungen gemacht. Die Vermarktung der Filmfiguren auf T-Shirts, Video und in Plüsch wird alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen – allein die Hauptfigur Simba gibt es immerhin in vier Altersstufen, ergo in vier Handelsgrößen. Das Merchandising fährt bei Disney ohnehin bereits 20 Prozent des Gewinns ein.

Auch der Soundtrack mit der Musik von Elton John und Texten von Tim Rice wurde bereits 5 Millionen mal verkauft. Insgesamt spekuliert man auf Gewinne in Höhe von einer Milliarde Dollar – Disney hätte damit den größten money maker der Filmgeschichte kreiert. Nach seinem Start in den USA hatte der Film im Sommer nach wenigen Wochen 270 Millionen Dollar eingespielt und wird – aufgrund seiner figuren- und tricktechnischen Perfektion – natürlich schon als sicherer Kandidat für Oscars in unbegrenzter Menge gehandelt.

Computeranimierte Echttierwelt

In der Tat neu und bestechend sind die Perfektion und die Recherche, mit der die Ausstattung des „Milieus“ betrieben wurde – für die Hintergrundzeichnungen der afrikanischen Landschaft, in der die Geschichte spielt, ebenso wie für die Akteure aus der Tierwelt. Denn erstmals wird auf die disneytypische anthropomorphe Anverwandlung der tierischen Protagonisten verzichtet. Bewegungsabläufe und Verhaltensmuster wurden genau studiert und umgesetzt, die Tiere sollten sein, was sie sind: Löwen, Hyänen, Warzenschweine.

Darüber hinaus ermöglichen neuentwickelte, computergesteuerte Animationstechniken, die es erlauben, Vorder- und Hintergrund der Bildfolgen unabhängig voneinander herzustellen und dann erst aufeinander zu projizieren, äußerst realistische „Blickwinkel“. In der aufwendigsten Sequenz jagt eine durchgehende Gnuherde zweieinhalb Minuten lang über die Leinwand – eine Szene, die in Jahren nicht von Hand hätte gezeichnet werden können. Dennoch hat es zwei Jahre gedauert, bis die aus zweidimensionalen Modellen entwickelte digitalisierte Computerversion dreidimensionale Aufnahmen aus jedem beliebigen Kamerablickwinkel ermöglichte. Ein weiteres Computerprogramm definierte dann gruppenweise Leittiere und ihr Gefolge, deren Bewegungen man so manipulierte und diversifizierte, daß der Eindruck unendlich vieler verschiedener Tiere entsteht.

Der Film erzählt freilich dennoch keine Tiergeschichte. Wie immer bei Disney geht es um die drei großen amerikanischen Fs: Freundschaft, Freiheit und Familie. Aber noch nie hat ein Zeichentrickfilm, schon gar nicht aus dem Hause Disney, so ernst davon erzählt. Und noch nie so Ernst damit gemacht, dem Zuschauer auch die moralischen Äquivalente dieser Grundwerte einzubläuen: Schuld, Pflicht, Verantwortung. Um diese Begriffe kreist nämlich die Geschichte von Simba, dem kleinen Löwenkönigssohn. Nachdem ihm sein Löwenonkel Scar die Schuld am Tode seines Vaters Musafa erfolgreich eingeredet hat, verläßt Simba sein kindliches Königreich. Während es unter der Herrschaft des intriganten Scar verfällt, verbringt Simba seine Adoleszenzzeit faul und sorglos in Gesellschaft zweier lebenslustiger Gesellen, die ihm helfen, seine Vergangenheit systematisch zu vergessen. Erst nachdem er bereit ist, sich seiner Verantwortung zu stellen, kann er zurückkehren, sein Königreich zurückerobern – und werden, der er ist.

Nicht zu Unrecht fühlten sich viele Filmkritiker an Shakespeares traurige Prinzen erinnert – die Figur und das Schicksal Simbas liegt tatsächlich irgendwo zwischen Bambi und Hamlet. Die philosophische Grundausstattung des Films besteht in der Lehre vom „Leben als ewiger Kreis“, in der Eingangssequenz machtvoll besungen. Diese zunächst leicht esoterisch anmutende Weltanschauung ist aber – jenseits ihrer die Erde mit dem Gesamtuniversum versöhnenden Grundidee – mühelos in der Lage, auch die Notwendigkeit sozialer Hierarchien und das Prinzip des Fressen-und-Gefressen-Werdens in Letztbegründung harmonisch zu integrieren. Jedes Individuum hat so seinen angestammten Ort, Rechte – und vor allem Pflichten. Und die bestehen zuvorderst im Kampf gegen die äußeren und inneren Feinde dieses wohleingerichteten Sozialwesens: die Bösen und die Schmarotzer – und natürlich den eigenen inneren Schweinehund. Good morning America.

Das Ende der Gemütlichkeit

Alle Charaktere des Films sind strikt auf ihre Position und Funktion in diesem Kampf hin entworfen. Ihre Ausstattung dient in jedem Moment der Benennung all jener psychologischen und charakterlichen Merkmale, die den Kampf einerseits erforderlich machen, ihm dienlich sind – oder eben abträglich. Die Hauptfigur Simba leidet deshalb beispielhaft vor allen Dingen unter jugendlichem Ungehorsam und der eitlen Ungeduld, endlich König zu sein, an Vergangenheitsverleugnung und einer unguten Anlage zur Faulheit. Der Sieg der Vernunft gelingt am Ende nur durch Erinnerung – an das nämlich, was sein Vater ihn einst lehrte.

Diesem nun erfolgreich psychologisierten Konzept des „ewigen Kreises des Lebens“ korrelieren freilich leider immer auch Ausreißermodelle. Da gibt es zunächst die Spaßmacherfraktion, die sich einen Teufel darum schert, irgendwelche Kreise zu schließen, hier vertreten durch ein Warzenschwein und ein Erdhörnchen, Simbas Weggenossen und Helfer während seines Verdrängungsprozesses. Ihr Lebensmotto „Hakuna Matata“ (Lebe sorglos) hat allerdings mit der subversiven Gemütlichkeits-Parole in Disneys „Dschungelbuch“ gerade noch die fetzige Musik gemein: Hier warnt die Hymne – trotz der liebevollen Komik, mit der dieses aberwitzige Pärchen gestaltet ist – letztlich vor einer schädlichen Idylle, die vom „Eigentlichen“ ablenkt.

Und dann gibt es natürlich die Bösen, die an einem eigenen, ganz anderen Kreis stricken. Musafas Bruder Scar ist der von Neid zerfressene Onkel, der durch Intrigen und Gewalt Simba vertreibt und sich selbst auf den Thron setzt. Die Figur ist kantiger und hat schärfere Körperkonturen als die anderen Tiere. Ihre Physiognomie wurde ganz bewußt auf ihre „Stimme“ hin gezeichnet: auf Jeremy Irons, der die Rolle in der Originalfassung mit britisch-näselnder Arroganz spricht – eine Mischung aus Langeweile und Gefährlichkeit, die der deutsche Synchronsprecher Thomas Fritsch perfekt imitiert.

Scar, der geborene Heuchler und Demagoge, verkörpert das echte, von Natur aus Böse. Aber auch ein Tyrann braucht Helfer. Aus diesem Grunde sind ihm die Hyänen zur Seite gestellt – die verachtete Tiergattung „ganz am Ende der Nahrungskette“. Er kann sie für seine Zwecke manipulieren, weil sie „dumm“ sind und nur ans Fressen denken. Die drei Vertreter dieser Gattung sind in der Originalfassung als eine brisante Mischung aus Ghetto- Schwarzen und White Trash identifizierbar (eine Stimme gehört Whoopi Goldberg). In der deutschen Version (mit den Stimmen Hella von Sinnens, Frank Lenarts und dem wiehernden Lachsack Jim Cummings', der schon im Original kein Wort spricht) ist dieser konkret amerikanische soziale Kontext freilich entschärft, weil er sich auf deutsche Verhältnisse nicht übertragen läßt. Übrig bleiben sabbernde und grölende „dämliche Viecher“, Schmarotzer, die sich für das Versprechen „Nie wieder Hunger“ leicht instrumentalisieren lassen – Underdogs also, die, so suggeriert der Film, schon deshalb böse sind, weil sie nutzlos sind.

Eine böse These und nicht unproblematisch in einem Film über Freundschaft, Freiheit und Familie, zumal in Zeiten, da in Amerika öffentlich diskutiert wird, ob Schwarze dümmer sind als Weiße. Doch scheinbar ist es nicht mehr damit getan, nach guter alter Disney-Sitte einfach Geschichten von der Zähmung des Widerspenstigen und Fremden durch seine bloße Amerikanisierung zu erzählen. Die values sitzen offenbar nicht mehr richtig und müssen nun übungshalber noch einmal durchbuchstabiert werden. Nach „Aladdin“, dem letzten großen Disney- Erfolg, in dem sich Amerika mit Zitaten aus seiner Mediengeschichte noch selbstgewiß und in rasantem Tempo feierte und ironisierte, ist „Der König der Löwen“ eine drastische Selbstermahnung.

Doch für den Rest der Welt wird er wohl werden, was alle großen Disney-Filme seit jeher waren: irgendwie rührend und ein Lehrstück für alle Altersklassen, das sich für pädagogische Nachbereitungen und Kreisschließungen aller Art, gerade auch in der Vorweihnachtszeit, hervorragend eignet.

„Der König der Löwen“. Regie: Roger Allers, Rob Minkoff. Musik: Elton John, Tim Rice (Texte). Stimmen u.a.: Julius Jelinek/Frank Lorenz (Simba), Thomas Fritsch (Scar), Ilja Richter (Timon), Hella von Sinnen/Frank Lenart/Jim Cummings (Hyänen). USA, 1994, 94 Minuten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen