„Durchgedreht wegen des Krieges“

Die letzte Hoffnung für Angolas „Malucos“: Angekettet in Papa Kitokos Hospital / Die meisten Patienten sind junge Männer, die in die Armee oder Guerilla gepreßt worden sind  ■ Aus Luanda Willi Germund

Stumm starrt der hoch aufgeschossene junge Mann in kurzen Hosen und ohne Hemd den Besuchern entgegen. Zuerst bleibt er bewegungslos, dann zieht er um so energischer eine Bastmatte heran und versteckt sich. Weglaufen kann er nicht. Um sein Fußgelenk liegt eine Kette, das andere Ende hängt an der Felge eines Autorads. „Durchgedreht wegen des Krieges“, sagt Papa Kitoko, der „Curandero“, ein traditionelle Heiler, der den neunzehnjährigen Mann behandelt.

Neunzig Prozent der 217 Patienten, die Kitoko Mayavanga in seiner einfachen Klinik am Rand von Kasenga, einem Millionen Einwohner zählenden, verwinkelten Slumviertel in den Außenbezirken der angolanischen Hauptstadt Luanda, behandelt, leiden an geistigen Störungen infolge des Bürgerkrieges. Und täglich kommen neue Kranke. Das eiserne Eingangstor öffnet sich quietschend. Eine Familie bringt einen etwa zwanzigjährigen Mann. Vor zwei Wochen haben ihn Angolas Streitkräfte nach Hause geschickt. Er war unbrauchbar geworden, verschlissen nach ein paar Monaten des Buschkriegs gegen die Rebellenbewegung Unita.

Jetzt stiert er mit glasigen Augen vor sich hin, Speichel tropft aus den Mundwinkeln, die kräftigen Muskeln sind angespannt, der junge Mann zerrt an den Seilen, mit denen die Verwandten ihn auf einem Stuhl festgebunden haben. Ab und zu entfährt ihm ein markerschütterndes Gebrüll. „Für viele bin ich die letzte Hoffnung“, sagt der 36jährige Papa Kitoko.

Seit 1961 herrscht in Angola Krieg. Erst war es der Befreiungskampf gegen die Kolonialherrscher aus Portugal, nach 1975 tobte ein durch die Supermächte angestachelter Bürgerkrieg, seit 1992 zerfleischen sich Regierung und Unita-Rebellen auf eigene Faust in einem erbitterten Ringen um die Macht. Die meisten der zehn bis zwölf Millionen Angolaner kennen Frieden nur vom Hörensagen. Aber fast jeder junge Mann im wehrpflichtigen Alter – ausgenommen die Sprößlinge der Regierungsfunktionäre und Generäle, versteht sich – wird von der Regierung oder den Unita-Rebellen in die jeweiligen Streitkräfte gepreßt.

Viele verkraften weder seelisch noch geisitg die Erlebnisse in einem Krieg, der mit rücksichtsloser Härte geführt wird. Papa Kitoko aus dem Ort Maquela de Zombo, nahe der Grenze zum nördlichen Nachbarland Zaire, ist oft nicht nur die letzte, sondern auch die einzige Hoffnung. Die Säle der gängigen Krankenhäuser in Angola sind mit Patienten überfüllt, die Regale der Apotheke leergeplündert. „Malucos“, wie geistig Behinderte im Volksmund heißen, leben auf der Straße, entsprechende Hospitäler gibt es für sie nicht.

„Wenn wir fertig sind, können die Patienten in den Räumen ohne Ketten umherlaufen“, entschuldigt sich der Curandero angesichts des Zustands seiner einfachen Klinik. Noch fehlt vielen Räumen das Dach. Der Boden besteht aus zerstampften Dachziegeln. Der Vorrat an Radfelgen reicht längst nicht mehr, um alle Patienten anzuketten. Aber Gitter aus Gußeisen gibt es reichlich. Papa Kitoko behilft sich damit, die Patienten dort festzubinden. „Wir müssen das tun“, sagt er, „viele von den Leuten sind unberechenbar und aggressiv.“

In einem Zimmer stapeln sich Plastiktüten mit Blättern voller Fueka und Dikanda, Heilkräutern, die Papa Kitoko in den wenigen Wäldern der Umgebung sammeln läßt und die ihm als Beruhigungsmittel für seine Patienten dienen. Aber selbst die Kräutermedizin wird wegen des Krieges knapp. „Wir können wegen der Minen und Kämpfe nicht alle die Mittel aus den Wäldern besorgen, die wir wirklich brauchen“, sagt der Mann, der sein Handwerk von seiner Mutter gelernt hat.

Ein Mann rollt mühsam die Eisenfelge voran, an die er gekettet ist. Den ganzen Tag, so Papa Kitoko, streift er so herum, immer auf der Suche – wonach, das weiß niemand. „Ich will alle Malucos von der Straße holen“, sagt Papa Kitoko.

Aber der Wagenwäscher, den wir eigentlich suchten, ist nicht unter seinen Patienten. Seit eineinhalb Jahren tauchte er allmorgendlich um 5.30 Uhr vor einem Wohnhaus auf und weckte die Besucher mit unverständlichen, aber deutlich erkennbaren Militärkommandos. Nach diesem Appell angolanischer Prägung ging es an die Arbeit. Blitzblank wienerte er die Autos vor dem Haus und verdiente sich so ein paar Pfennige für seinen Lebensunterhalt. Vor ein paar Tagen tauchte er plötzlich in neuen Kleidern auf. Seitdem ist er verschwunden – untergetaucht zwischen den Millionen von Angolanern, die vor dem Krieg in die Hauptstadt Luanda geflohen sind? Verhaftet? Oder gar vielleicht wieder in die Armee gepreßt?