Mercado -betr.: "Nicht edel, aber öko oder so", taz vom 9.11.94

Betr.: „Nicht edel, aber öko oder so“, 9.11.94

Jetzt hat auch wirklich jedeR mitbekommen, wie die jüdischen Leichen fest einbetoniert wurden, also da kann kein Skelett mehr – selbst bei einer Sturmflut – an die Oberfläche geschwemmt werden. Diesem unerfreulichen Zwischenfall einer „moralischen Verpflichtung“ ist also auch laut Oberrabbi Genüge getan, und die Überreste der altonaschen jüdischen Kultur sind auf ewig eingebunkert, unsichtbar wie von Zauberhand entschwunden. Da können so schnell keine Visionen wie „die Rache der Toten“ mehr aufkommen.

Ein großes Aufatmen?

Wohl kaum – denn die Probleme fangen erst an.

Die neue Strategie: Es wird auf Bürgernähe gesetzt. Die Aura eines esoterisch-orientalischen Basars wird eingehaucht. Auf den Spuren der Natur, quirlende Lebendigkeit, ein Ort des Essens und Kaufens. Klingt wie in Tausendundeine Nacht... Vielleicht auch ein paar (Marihuana-) Öllampen?

Hört sich himmlisch an, aber woher bloß das plötzlich schlechte Gewissen, fragen sich manche AnwohnerInnen? Sollen die Avancen an die BürgerInnen davon ablenken, daß in vorgefertigte Fertigbauteile, die in Duplo-Manier zusammengesetzt werden, nur schwer Atmosphäre gezaubert werden kann? Oder daß es sich anscheinend „nur“ die ausländischen Gemüsehändler leisten wollen, die geforderten Mietpreise dieser „modernen“ Architektur zu zahlen? Oder daß jetzt auch Kindergartenkinder schon in die Gesetze des Marktes mit einbezogen werden sollen, gewissermaßen als Früh-Lehrgang für die raffinierteste Art, schnell an Geld zu kommen?

Unter diesen Vorzeichen wird einer der wenigen noch lebendigen Stadtteile vergewaltigt. Offensichtlich herrscht nur die Rache: Wer sich schon nicht marketinggetreu vermarkten läßt, muß dafür büßen. Das derzeit angestrebte Ziel: Ottensen als verlängerter Kiez. Kann ja wohl nicht ernst gemeint sein.

Um eine echte, ehrlich gemeinte Lösung für dieses allerseits ungeliebte Objekt zu finden, müssen sich die Investoren um dieses Symbol der zukünftigen Stadtentwicklung wohl um weitere Visionen bemühen, um in ihrer BürgerInnennähe zu überzeugen.

Eine anwohnende Mutter