Den Knüppel von der Nase des Nachbarn heben

■ Wie der ukrainische Präsident das Parlament zum Atomwaffenverzicht überredet

In die rhetorisch-taktische Trickkiste eines Bürgermeisters von Schilda griff am Mittwoch mit Erfolg der ukrainische Präsident Leonid Kutschma, um die Abgeordneten des Kiewer Parlaments endgültig zum Verzicht auf den Unterhalt und die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu bewegen. Trotz fieberhafter Tätigkeit westlicher und präsidialer Lobbyisten in den letzten Monaten zeigte sich ein beträchtlicher Teil der Deputierten zu Beginn der Debatte verstockt: Nur ungern wollten die Volksrepräsentanten der bisher drittstärksten Atommacht der Welt den radioaktiven Knüppel von der Nase des benachbarten russischen Buhmanns abziehen.

Da stellte Kutschma die Gretchenfrage. Als Ex-Generaldirektor einer Raketenfabrik rechnete er vor, daß es zwischen zehn und dreißig Milliarden Dollar im Jahr kosten werde, das ukrainische atomare Arsenal in Schuß zu halten. „Jedes weitere Hinauszögern (des parlamentarischen Jaworts zum Verzicht) wird unserer nationalen Souveränität und Sicherheit nur schaden“, sagte Kutschma – und bat jene Abgeordneten, die Hand zu heben, die bereit seien, aus ihrer Haltung auch die Konsequenz zu ziehen: im eigenen Wahlkreis Kernwaffen zu stationieren, sie eventuell dort zu erproben und mit den Mitteln ihrer Wähler deren Wartung zu finanzieren. Es meldete sich niemand. Mit 301 gegen acht Stimmen bei 20 Enthaltungen fiel bald darauf die Entscheidung zugunsten des Verzichts.

Der Präsident der Ukraine hat es so geschafft, die Angelegenheit noch vor seinem in der nächsten Woche geplanten Besuch in den USA unter Dach und Fach zu bringen. Beim Zusammenbruch der UdSSR befanden sich 176 Atomraketen und entsprechende etwa 1.800 Sprengköpfe auf ukrainischem Boden. Ein guter Teil der Raketen ist bereits im Zuge eines dreiseitigen Abkommens zwischen Washington, Moskau und Kiew abgebaut worden. Im Februar dieses Jahres trat die Ukraine dem Start-1-Abkommen bei. Der jetzige weitere Schritt wird durch die inhaltliche Bindung eines guten Teils der im letzten Jahr für den ukrainischen Staat zugesagten US-Hilfe in Höhe von 700 Millionen Dollar an atomare Abrüstungszwecke begünstigt.

Erst Stunden vor der Parlamentsdebatte war ein nationales Memorandum zustandegekommen, in dem die USA, Großbritannien und Rußland gemeinsam die militärische Sicherheit der Ukraine garantieren. Die Deputierten in Kiew wären nicht sie selbst, wenn sie nicht doch noch etwas zu mäkeln gefunden hätten. Die endgültige Ratifizierung des Vertrags wollen sie davon abhängig machen, daß dieses Memorandum in ein „international gültigeres“ Dokument umgewandelt wird. Außerdem wollen sie darauf bestehen, das im eigenen Land überflüssig gewordene spaltbare Material dem Westen zu Weltmarktpreisen zu verhökern. Fachleute halten letzteres angesichts der internationalen Konkurrenz für einen frommen Wunsch. Daß die Ukraine den Vertrag auf der nächsten Internationalen Konferenz für Frieden und Zusammenarbeit in Europa im September in Budapest unterzeichnen wird, steht so gut wie fest. Barbara Kerneck