153 Selbstmorde, 19 Morde

■ Doch die meisten Menschen im Lande Bremen sterben an Herzinfarkten, Schlaganfällen und an Krebs / taz-Serie „sterben in Bremen“, Teil 8

Genau 8.643 Menschen starben 1993 im Land Bremen. Damit verschwanden 1,26 Prozent der 683.096 LandesbürgerInnen unter der Erde. In die Medien gerieten die wenigsten von ihnen – nur die 19 Ermordeten und Totgeschlagenen sowie die 53 Verkehrsopfer. Die meisten BremerInnen dagegen starben an den klassischen Herz-Kreislauf-Krankheiten wie Schlaganfall, Herzinfarkt oder Herzinsuffizienz: rund 45 Prozent der Toten. Zum Teil durchaus vermeidbar, sagen ÄrztInnen seit langem. Wenig Bewegung, schlechte Ernährung – man kann es nicht mehr hören.

Aber wer weiß schon, wieviel BremerInnen Müsli essen? Laut Gesundheitsbericht '92 löffelten 23 Prozent der Schwachhauser Männer täglich oder mehrmals in der Woche einen Napf Müsli aus, in Tenever dagegen nur 13 Prozent. Spitze in allen Stadtteilen sind die Frauen: In Schwachhausen gibt es zum Beispiel 32 Prozent Müsli-Esserinnen. Die übrigen Schwachhauserinnen sind dafür Spitze im Kuchenverzehr: 50 Prozent mampfen täglich oder mehrmals in der Woche Kuchen. Von den restlichen BremerInnen sind nur um die 30 Prozent Leckermäuler – Männer wie Frauen.

Fett, ein weiterer Risikofaktor, wird dagegen in etwa ähnlichen Mengen in den verschiedenen Bremer Stadtteilen verzehrt: In den sozial-ökonomisch bessergestellten Stadtteilen wie Barkhof, Ostertor, Steintor, Oberneuland ißt man eben statt fetter Wurst fetten Käse und statt Margarine Butter. Solcherlei Daten nahm die Gesundheitsbehörde Anfang der 80er Jahre zum Anlaß, die Bevölkerung umzuerziehen: Während der Deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie brachte Buten & Binnen wöchentlich Gesundheitstips, schütteten die KantinenchefInnen weniger Fett ins Essen und boten die Sportvereine Kurse für EinsteigerInnen. Das soll genützt haben: Die Zahl der Herz-Kreislauf-Toten sank beträchtlich. Und der Bremer Bluthochdruck liegt jetzt unter dem der übrigen Bundesdeutschen.

Zweite Haupttodesursache neben den Herz-Kreislauf-Krankheiten ist der Krebs: 25 Prozent der LandesbürgerInnen erlagen 1993 einem Krebsleiden. Völlig unklar ist bislang, warum in Bremen verglichen mit dem Bundesdurchschnitt mehr Menschen an Krebs sterben. „Vielleicht, aber wirklich nur vielleicht liegt das an der Konzentration von Hafen- und Schiffsbauindustrie in Bremen, Sie wissen schon: Asbest“, sagt Heinz-Jochen Zenker, Leiter des Bremer Gesunheitsamtes. Ein wesentlicher Risikofaktor für Krebs ist das Rauchen, und da liegt Bremen über dem Bundesdurchschnitt: 46 Prozent der Bremer Männer rauchen, sonst sind es nur 39 Prozent, sagt die Epidemologin Ulrike Maschewsky-Schneider vom Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS).

In den klassischen MalocherInnen-Stadtteilen wie Walle und Gröpelingen starben im Ortsamtvergleich übrigens auch besonders viele Menschen an Leberzirrhose. Was nicht heißt, daß in den besseren Vierteln nicht auch viel getrunken würde: In Stadtteilen wie Schwachhausen oder Bürgerpark gaben 40 Prozent der Frauen an, täglich oder mehrmals in der Woche Wein zu trinken, in Tenever oder Gröpelingen dagegen trinken so oft nur 5,2 Prozent der Frauen Wein und 8,5 Prozent Bier.

Wesentliche Unterschiede zwischen den Stadtvierteln gibt es auch beim Brustkrebs: In Oberneuland erliegen dem Brustkrebs wesentlich mehr Frauen als in Osterholz. Mögliche Erklärung: Die OsterholzerInnen bringen ihr erstes Kind früher zur Welt und bekommen mehr Kinder als in den Villenvororten, das senkt das Krebsrisiko.

Negativ fällt Bremen im Bundesvergleich also bei der Todesursache Krebs auf, äußerst positiv dagegen bei der Säuglingssterblichkeit. Um die alarmierend hohe Säuglingssterblichkeit zu senken, startete die Gesundheitsbehörde in den 80ern ein umfassendes Programm. So betreuten zum Beispiel eigens eingestellte Familienhebammen Risikoschwangere. Erfolg: Heute sterben in Bremen im Vergleich zu den anderen Bundesländern die wenigsten Säuglinge, 1992 zum Beispiel 32 (ohne Totgeburten).

Große Rätsel allerdings gibt nach wie vor die in Bremen über dem Bundesdurchschnitt liegende Selbstmordrate auf: 153 Menschen töteten sich selbst. Großstädte, so vermutet der Gesundheitsamtleiter, haben wahrscheinlich immer höhere Zahlen. „Die risikofreudigeren Bevölkerungsanteile streben nun mal in Großstädte – risikofreudig im positiven wie im selbstdestruktiven Sinne.“ Christine Holch