Wer immer trinkt ...

■ ... dem glaubt man auch. Ein Gespräch über unseren, den deutschen Durst

WWir sind satt, sagen wir, wenn wir uns den Bauch vollgeschlagen haben. Haben wir genug gesoffen, fehlen uns die Worte. Weil wir blau sind und weil der deutschen Sprache der Begriff für den gestillten Durst fehlt. Ein germanisches Jahrtausendprogramm, eingeschlossen Rausch und Erkenntnis, Stammtisch, Gemüt, Ritual und Bier – jetzt gibt es das Buch dazu. Regina und Manfred Hübner, zwei Ostberliner Kulturwissenschaftler, haben tief ins alt- und gesamtdeutsche Glas geschaut und eine Kultur- und Sozialgeschichte deutscher Trinksitten herausgegeben.

taz: Warum fällt einem zum deutschen Durst Bier und Suff ein und nicht etwa Tee und Erfrischung?

Manfred Hübner: Es gibt tatsächlich alle möglichen Quellen, die den Deutschen nachsagen, daß die sogenannten geistigen Getränke bei ihnen schon immer einen besonderen Rang eingenommen haben. Das wurde sehr unterschiedlich bewertet: Man war verwundert, daß die Deutschen Gäste zu einem Mahl empfingen, bei dem keiner nüchtern blieb. Man war entsetzt, daß es selbst in bessergestellten Kreisen so weit ging, daß die Gäste dann bis zur Trunkenheit genötigt wurden.

Schon merkwürdig, daß Trunkenheit etwas mit Geist zu tun haben soll.

Daß alkoholische auch als geistige Getränke umschrieben werden, verweist ja auf Wirkungsweisen. Daß da irgend etwas mit der Psyche, mit der Seele, mit dem Geist passiert. Natürlich auch immer hart an der Grenze zu dieser dumpfen, biederen, spießigen Biertischgeselligkeit. Aber ich denke mal, daß bei den Deutschen die Kneipe immer mehr war als nur ein Ort, an dem Alkohol ausgeschenkt wurde. Es war auch ein Ort von Kommunikation, von Organisation, nicht nur in der Arbeiterbewegung, sondern in fast allen Klassen und Schichten. Und davon ist historisch was rübergekommen. Wenn Sie sich heute in den Prenzlauer Berg begeben, in die Szenekneipen oder in die noch vorhandenen wenigen urigen Berliner Eckkneipen, dann wird dort nicht nur gesoffen. Da treffen sich Leute, die sich austauschen, die auch mal was aushecken, was nicht jedem so gefällt.

Na ja.

Das war auf jeden Fall mal anders. Weißbier zum Beispiel – nimmt man die Vormärzzeit als exemplarisch – erforderte ein ganz anderes Trinkverhalten. Das Weißbier mußte aufgrund des Hefegehalts erst einmal stehen, absacken, zur Ruhe kommen und dann sehr vorsichtig getrunken werden. Und das zog ganz bestimmte Verhaltensweisen nach sich: Wer dieses Zeug trank, der hatte ganz einfach Muße zum Räsonnieren. Daher kam der Begriff Weißbierphilister. Das Kleinbürgertum saß in der Vormärzzeit zusammen und beschwatzte in aller Gemächlichkeit die Dinge des Lebens, und die Sicht auf die Welt war eine sehr kleinkarierte: Der Stammtisch war der Mittelpunkt der Weltgeschichte.

Stresemann, Reichskanzler und Außenminister der Weimarer Republik, hat diesen Wandel des Trinkverhaltens von den Weißbier- zu den Aschingerstuben übrigens in seiner Doktorarbeit beschrieben. Die Molle wurde jetzt – zum Teil im Stehen – auf die Schnelle gestürzt. Trotz alledem ist bei den Deutschen etwas mehr Gemütlichkeit beim Trinken übriggeblieben, das hat unter anderem auch mit der Architektur der Kneipe zu tun. Der Tresen hat in Deutschland nie diese dominante Rolle gespielt wie in den angelsächsischen Ländern. Der Tresen war immer eine symbolische Form des Verkaufstisches, ansonsten hatte die Kneipe den Charakter der gutbürgerlichen Stube.

„Gemütlichkeit“ ist so was wie der Inbegriff dumpfdeutscher, reaktionärer Biederkeit. Wie verträgt sich das denn mit dem von Ihnen so geschätzten Szenekneipen- Austausch?

Ich würde sagen, daß Gemütlichkeit erst einmal doch ein kultureller Wert ist. Kommunikation in Szenekneipen oder früher in den Arbeiterkneipen wäre ohne „Gemütlichkeit“ gar nicht denkbar. Wenn die da alle wie die Hühner auf der Stange am Tresen aufgereiht wären und dann vielleicht vor allem hochprozentige Getränke zu sich nähmen, wäre Kommunikation nur noch bedingt denkbar. Kontakt mit dem Nebenmann in dieser Tischkultur geht ja ganz anders vonstatten. Natürlich kann das schnell in diese biedere Stammtischgemütlichkeit umkippen. Das hat aber weniger etwas mit Alkohol zu tun. Eher mit der Befindlichkeit der Trinkgenossen.

Der Deutsche gilt gemeinhin als nüchtern und sachlich. Andererseits trinken wir etwa 150 Liter Bier jährlich und halten die Alkohol-Weltspitze – 12 Liter reinen Sprit pro Jahr. Wie das?

Mit der Nüchternheit ist das ja so eine Sache. Es streiten sich ja nicht nur die Wissenschaftler, sondern auch die Menschen am Stammtisch darum, wie das nun mit den deutschen Tugenden wirklich ist: ob es uns genetisch in die Wiege gelegt wurde, daß wir Nüchternheit, Arbeitsfleiß und -moral pflegen. Ich bezweifle das sehr. Sicher gibt es solche Entwicklungen, die man schon in der Zeit Martin Luthers beobachten kann. Aber der eigentliche Umschlag kam mit der in Deutschland sehr verspäteten, aber radikalen Industrialisierung. Was über deutsche Arbeiter oder Handwerker etwa 1835, selbst 1850 noch geschrieben wurde, hat mit Fleiß und Tempo und Nüchternheit im heutigen Sinne verdammt wenig zu tun.

Das war wohl erst eine Folge dieser radikalen Industrialisierung. Weil sie so schnell erfolgte, hinterließ sie in der Psyche der Deutschen diesen Hang zur Nüchternheit, zur Perfektion, zur Sachlichkeit. Wahrscheinlich fällt uns das aber immer noch so schwer, daß wir Entlastung suchen müssen. Stellen Sie sich ein Leben vor in dieser stressigen, hochmodernen Gesellschaft ohne Kneipen. Irgendwann würde die Maschine Mensch heißlaufen. – Die Mediziner werden an dieser Stelle sicher den Zeigefinger heben, aber ich denke, man sollte das Miteinander- Trinken auch als kulturelles Hilfsmittel sehen. In der Kneipe werden bestimmte Klassen- und Standesunterschiede aufgehoben.

Und das war schon immer so?

Das fing sogar so an, daß im ausgehenden Mittelalter die Tavernen die ersten Orte waren, wo die ansonsten sehr streng gehandhabten Standesunterschiede aufgehoben wurden. Es gab zwar noch verschiedene Tische, an denen die Herren oder die Knechte saßen, aber in einer Kneipe. Als es vor 100 Jahren in Berlin die ersten großen Biergärten und Bierpaläste, die Bierkirchen, wie man hier sagte, gab, wurde immer wieder festgestellt, daß Bier etwas Demokratisches bewirkt. Plötzlich saß in diesem Biergarten der Facharbeiter neben dem Fabrikanten.

Das ist aber wohl sozialromantische Geschichte. Heute geht doch jeder in die Kneipe seiner Szene, seines Standes.

Es gibt diese Aufhebung von Standesunterschieden noch, spätestens wenn der Rausch zunimmt. Andererseits leben wir natürlich in einem modernen Industriekapitalismus, in dem sich auch die Kneipenlandschaft, nach anderen, kommerziellen Gesichtspunkten richtet. Es gab ja eine ähnliche Entwicklung in der DDR; ganz extrem durch die sogenannten Klubgaststätten, die doch eher den Charakter von Bahnhofsgaststätten großen Stils hatten. Wo es individuelle Verhaltensweisen, Kommunikation in der beschriebenen Form nur bedingt gab. Das lief und läuft vorrangig auf Verköstigung oder Alkoholausschank hinaus.

Was unterscheidet denn eigentlich den deutschen Durst vom englischen oder französischen? Oder anders, banal gefragt: Gesoffen wurde und wird doch letztlich überall gleich, oder?

Zunächst: Der Titel ist natürlich auch ironisch gemeint, ausgehend von den Beobachtungen, die zum Teil ja 400, 500 Jahre zurückliegen. Ansonsten gibt es sicher auch viele Gemeinsamkeiten. Wenn Sie den Feudaladel nehmen – da war Vieltrinken und -essen natürlich in allen Ländern zu beobachten, da haben sich der englische Adel und die russischen Bojaren nicht von den Deutschen unterschieden. In Deutschland aber, in der Zeit des Absolutismus, hat sich dieser Archaismus gehalten, während in Frankreich, am Hofe des Sonnenkönigs, das Raffinement in Mode kam, die Verfeinerung von Speisen und Getränken.

Die Deutschen aber soffen weiter.

Der Geschmack hat sich zumindest in dieser Phase nicht so sehr verfeinert. Und das wurde im übrigen damals nicht unbedingt negativ bewertet. Der trinkfeste Jugendfreund des Herrn Schiller, ein gewisser Johann Wilhelm Petersen, hat 1781 ein Buch geschrieben mit dem schönen Titel „Die deutsche National-Neigung zum Trunke“. Er hat diese Neigung nicht etwa kritisch bewertet, sondern daraus nationale Tugenden abgeleitet. Devise: Wer immer schön besoffen ist, der muß offenherzig sein. Der kann sich nicht mit welscher Tücke verstellen, was auch dazu geführt haben soll, daß die Germanen und später die Deutschen besonders treu waren – privat und gesellschaftlich. Außerdem: Wer konnte sich schon besonders verstellen und fremdgehen, wenn er in seiner Freizeit hauptsächlich mit dem Trinken beschäftigt war? Interview: Andreas Lehmann

Regina und Manfred Hübner: „Der Deutsche Durst. Illustrierte Kultur- und Sozialgeschichte“. Edition Leipzig, 1994