Wenn andere im Schlamassel stecken

■ Die tägliche Spülung (Serie): Gerhard Bliersbach über die Frage "Wieviele Beziehungen braucht ein Mensch?" Einige Anmerkungen zu den Nutzungsmöglichkeiten des täglichen (und sich täglich erweiternden)...

Mit „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ fing es vor zweieinhalb Jahren an. Schon über 600 Folgen lang sehen vier bis fünf Millionen Zuschauer die tägliche Soap-opera von RTL. In diesem Winter werden die Helden aus Berlin-Tempelhof allerdings Konkurrenz bekommen: ARD, ZDF und Sat.1 haben eigene „Dailys“ in Auftrag gegeben, in acht Tagen startet RTL mit „Unter uns“ eine weitere tägliche Familienserie. Lange hieß es, die „Daily Soaps“ ließen sich auf dem deutschen Markt nicht etablieren. Die AutorInnen der hiermit startenden taz- Serie „Die tägliche Spülung“ wollen dem nun doch offen-sichtlichen Erfolg der täglichen Fiction-Formate auf den Grund gehen.

Mit Onkel Otto kann man Pferde stehlen, Onkel Horst ist so streng, Tante Emmi ist herzlich, Tante Käthe immer so spitz. Sabine Christiansen ist ganz sympathisch, Margarete Schreinemakers geht, Günther Jauch ist blabla, und Harald Schmidt ist nicht rotzig genug.

Wir pflegen eine Vielzahl von Beziehungen. Nicht nur reale mit unseren Verwandten, Freundinnen und Freunden, Bekannten, Kolleginnen und Kollegen, sondern auch phantasierte Beziehungen zu den Stars der Massenmedien und des Sports, zu den Künstlerinnen und Künstlern der Literatur, der Malerei und der Musik, der bildenden Künste und des Kinos. Je nach Geschmack und Lebensgeschichte.

Der Unterschied ist schwer zu beschreiben. Phantasierte Beziehungen haben eine andere Realität; sie werden anders gelebt. Onkel Horst sieht man zweimal im Jahr, aber vielleicht kommt einem Sabine Christiansen weniger fremd vor. Wir sind ständig dabei, Beziehungen aufzunehmen und zu gestalten – privat, im Beruf, beim Bäcker, in der U-Bahn, auch vor dem Fernsehgerät. Wir leben in persönlich und in unpersönlich gehaltenen Beziehungen; in Beziehungen, über die wir uns verständigen (mit dem Freund oder der Freundin), und in Beziehungen, die wir für uns behalten und mit denen wir in einem inneren Dialog beschäftigt sind.

Die Television ist ein eigener, seltsam zwittriger Bereich unseres Alltags: Sie lebt von der Verheißung des live, und tatsächlich sind wir gemeinsam dabei (bei einer Sportveranstaltung, einer Diskussionsrunde), aber dennoch ist die Wirklichkeit, die in unsere Wohnstuben strahlt, vom elektronischen Medium zubereitet, inszeniert. So ist das Fernsehen ein komplizierter Prozeß. Kein passives Hinnehmen, sondern eher ein Vereinnahmen – indem wir unsere Zuneigungen und Abneigungen gegenüber den Protagonisten des Bildschirms sortieren, sie zuordnen und austesten und verfestigen zu einer affektiven Gewißheit und Vertrautheit, daß wir schließlich zu wissen glauben, mit wem wir es zu tun haben. Und die Television unterstützt mit ihrer Ästhetik der Freundlichkeit des Einzelhandels diese inneren (Beziehungs-)Bewegungen und vergrößert das Beziehungsangebot.

„RTL produziert Deutschlands erste echte Soap-opera“, hieß es neulich in der Zeitschrift TV-Serien Hits. Was ist eine „echte Soap- opera“? Die Soap-opera, eine (für Opern-Liebhaber) respektlose Wortschöpfung, ist eine amerikanische Erfindung. Die Seifenhersteller – daher soap – versuchten, der frühmorgens hausarbeitenden Bevölkerung (das waren in den fünfziger Jahren zumeist die Frauen) die Zeit mit Hörfunk- und Fernsehserien zu vertreiben, in denen es ganz alltäglich auf und ab ging. Wenn andere im Schlamassel stecken, läßt sich der eigene Schlamassel vielleicht ertragen, lautet das psychohygienische Grundprinzip (von dem auch die Nachrichtenindustrie gut lebt). RTL bietet ein gutes Dutzend junger Akteure auf, deren Lebensalltag fünfmal in der Woche über den Sender geht: „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, eine sogenannte „Daily Soap“.

RTL strengt sich an. Die seit 1985 vom WDR produzierte „Lindenstraße“ wird einmal wöchentlich ausgestrahlt. Großbritanniens sehr erfolgreiche, bald 35 Jahre alte „Coronation Street“, ein Dauerläufer wie früher der Käfer aus Wolfsburg, ist zweimal in der Woche zu sehen. „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ ist gerade bei den jungen Leuten beliebt; und die Zuschauerzahlen (insgesamt) können sich sehen lassen: Im Durchschnitt sehen pro Folge viereinhalb Millionen zu. Wieso?

Zuerst eine allgemeine, dann eine spezifische Antwort. Serien haben ihre Rhythmen. Serien sind zuverlässig. Serien ordnen Lebenszeit (etwas). Serien sind eine sichere Bank; die Amplituden der Überraschungen sind bekannt. Bei einem millionenfach produzierten Auto geht man auch kein Risiko ein. Serien sind emotional übersichtlich: Die mag ich, aber den mag ich nicht; die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen: Man verfügt über die Figuren – innerlich, in den Zeiten zwischen den Ausstrahlungen. Wie über eine Produktidee oder eine Produktphantasie, welche die Werbung laufend wiederholt in einem Satz (beispielsweise), den wir aufnehmen und mit dem wir spielen.

„Man gönnt sich ja sonst nichts“ ist ein Satz, der, wenn er übernommen wird, den inneren Bewegungsspielraum vergrößern hilft; ein Satz gegen das schlechte Gewissen; die Formel des augenzwinkernden Triumphs über die eigenen Schuldgefühle. Die eigene Lebenswirklichkeit drückt; über sie triumphieren zu können ist eine alte Sehnsucht. Dazu werden Omnipotenzerfahrungen benötigt; direkte und indirekte, reale und phantasierte. Wir gehen ins Kino und genießen (mehr oder weniger) das triumphale happy ending. Wir spielen im Lotto und phantasieren (mehr oder weniger) das triumphale happy ending des unbeschwerten Lebens. Phantasien der Künste vermischen sich mit Phantasien des Alltags. Und phantasierte Beziehungen bevölkern unsere inneren Welten.

„Gute Zeiten, schlechte Zeiten“. Das Leben ist nicht einfach. Die Schauspielerinnen und Schauspieler in dieser schnell produzierten Serie wirken unbeholfen, hölzern – die adoleszente Scham sitzt ihnen offenbar nicht so in den Knochen, und wer mit der eigenen Schambereitschaft sehr zu kämpfen hat, kann sich herrlich ausschütten über diese Akteure. Die Spannungsbögen sind gut vorhersehbar.

Die Themen sind ebenfalls in Reichweite adoleszenter Lebenswirklichkeit: Verhandelt werden die Probleme des Sichverliebens und des Sichtrennens, der Ausbildung und der Arbeit. Wer will, kann die Füße ausstrecken und bilanzieren, wie der eigene Lebensalltag im Vergleich mit dem Serienalltag abschneidet.

Der Erfolg der RTL-Serie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ ist verständlich. Und der Kölner Sender bemüht sich sehr. Er hat eine sogenannte Hotline eingerichtet: Ungeduldige Zuschauerinnen und Zuschauer können sich nach den Serienakteuren erkundigen. So werden, aus deren Sicht, die TV- Beziehungen ein wenig real. Das war schon die Politik der alten Hollywood-Studios, die von ihren Stars verlangten, daß die so lebten und sich gaben wie in ihren Kinogeschichten. Das Publikum sollte gebunden werden. Es sollte mit den eigenen Tagträumen und Phantasien absorbiert bleiben. Das gleiche versucht RTL, versuchen ARD und ZDF, die Ende dieses Jahres bei der Konkurrenz der Kanäle mit eigenen Serien mitzumischen beabsichtigen.

Werden heranwachsende Zuschauerinnen und Zuschauer mit fremden Lebensgeschichten so sehr behelligt, daß sie gar nicht mehr dazu kommen, die eigenen vier Wände zu verlassen? Wo werden sie mehr leben: in realen, gegenseitigen oder in phantasierten, einseitigen Beziehungen? Werden, in deren Wahrnehmung, die Unterschiede zwischen den Beziehungsrealitäten verschwimmen? Es hängt von der Bedürftigkeit eines Zuschauers, einer Zuschauerin ab, ob phantasierte Beziehungen den Mangel an wirklichen Begegnungen kompensieren müssen. Und von der Bedürftigkeit hängt auch ab, ob die Unterschiede zwischen den Beziehungsrealitäten (innerlich) gemacht werden – oder ob man sich mehr zurückzieht in die eigene innere Welt tagträumerischer Beziehungsphantasien.

Der Fernsehkonsum steht üblicherweise im Dienste einer Suchbewegung: Herausfinden, was man will, wer man ist. Dazu gehört auch die für Heranwachsende notwendige Entdeckung, daß Phantasieren ein Zwischenstadium darstellt und, exzessiv betrieben, einen davon abhält, sich im Kontakt mit gleichaltrigen Freundinnen und Freunden lebendig zu fühlen. Ausgiebiges Tagträumen macht einen einsam. Viele phantasierte Beziehungen entfremden.

Aber auch das Netz an realen Beziehungen kann nicht beliebig erweitert werden. Wirklich persönliche Beziehungen lassen sich nur mit wenigen Leuten pflegen; die eigene Beziehungsfähigkeit und das Zeitbudget lassen nicht mehr zu. Die Sendeanstalten werden die Erfahrung machen, daß ein größeres Beziehungsangebot nicht automatisch aufgegriffen wird, sondern daß sich mit den TV-Vertrauten ein Umgang einspielt, der dem Umgang ähnelt, den Heranwachsende mit der eigenen Familie pflegen: Man schaut mal rein und geht bald wieder.

Alle Fotos: RTL

Der Autor ist Psychotherapeut in einer psychiatrischen Fachklinik und Autor zahlreicher Artikel und Sachbücher, u.a. „Schön, daß Sie hier sind! Die heimlichen Botschaften der TV-Unterhaltung“, Beltz, Weinheim 1990.